Bis ich dich finde
Namen der Figur ein, die er in seinem nächsten Film
spielen werde.
Als Jack das Fitness-Studio verließ, ging er vor der Rückkehr ins
Torni zuerst in den Pornoladen, in dessen Schaufenster er das sonderbare, aber
verlockende Magazin Schwangere Girls gesehen hatte.
Er nahm das Heft mit auf sein Hotelzimmer, bloß um sich die Bilder anzusehen,
die zugleich verstörend und erregend waren.
Später, als er zur Kirche im Felsen aufbrach, warf er das
widerwärtige Heft weg, aber nicht in seinem Zimmer, sondern auf dem Flur, in
einen Abfallbehälter gegenüber dem Fahrstuhl. Nicht daß man derartige Bilder
wirklich loswerden kann – nicht in Jahren, vielleicht nie. Was diese
Schwangeren auf jenen Fotos taten, würde in Jacks Gedächtnis haften bis ins
Grab – oder bis [790] in die Hölle, wo man laut Ingrid taub war, aber alle sehen
konnte, denen man je bewußt weh getan hatte. Man konnte bloß nicht hören, was
sie über einen sagten.
Seit jenem Nachmittag in Helsinki konnte sich Jack vorstellen, wie
die Hölle für ihn aussehen würde. Bis in alle Ewigkeit würde er diesen
Schwangeren beim Sex in unbequemen Stellungen zusehen. Sie würden über ihn
reden, aber er würde sie nicht hören können. Bis in alle Ewigkeit würde er nur
raten können, was sie sagten.
Auf Jack wirkte die Kuppel der Tempelliaukio Kirkko wie ein
gigantischer umgestülpter Wok. Die Felsen, aus denen Boden und Wände bestanden,
erinnerten in ihrer Schlichtheit an eine heidnische Kultur; es war, als wäre
die Kuppel ein lebendiges, aus dem Krater eines Meteors auftauchendes Ei. Die
Wohnhäuser, die die Kirche im Felsen umgaben, hatten etwas einförmig Strenges.
(Mittelständische Mietshäuser aus den dreißiger Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts.)
In der Kirche gab es noch mehr Felsen. Der Organist saß im Blickfeld
der auf der linken Seite sitzenden Gemeindemitglieder. Das leere, an den Kanten
abgerundete Chorgestühl nahm eine zentrale Position ein. Chöre waren hier
wichtig. Die Orgelpfeifen aus Kupfer wirkten vor dem helleren und dunkleren
Holz ausgesprochen modern. Die Kanzel war von Stein eingefaßt; Jack fand, daß
sie wie ein Trinkbrunnen aussah.
Am frühen Nachmittag saß er da und lauschte Hannele und Ritva –
Ritva, auf der Orgelbank, wandte ihm das Profil zu, Hannele, das Cello zwischen
den weit gespreizten Beinen, saß ihm frontal gegenüber. Während die beiden
Frauen probten, herrschte in dem kleinen Publikum ein leises Kommen und Gehen.
Jack merkte, daß Hannele ihn erkannt hatte, sobald er sich gesetzt hatte; sie
hatte ihn wohl erwartet, denn sie lächelte bloß und nickte ihm zu. Ritva drehte
sich einmal um und sah Jack an; [791] sie lächelte und nickte ebenfalls. (Die Frau
von der Sibelius-Akademie, mit der er gesprochen hatte, mußte Hannele und Ritva
darauf aufmerksam gemacht haben, daß Jack Burns nach ihnen suchte.)
Sie spielten nicht durchweg Kirchenmusik, jedenfalls keine typische.
Als ehemaliger Kanadier erkannte Jack Leonard Cohens »If It Be Your Will« –,
nicht daß er es üblicherweise in einer Version für Orgel und Cello hörte. Als
Amerikaner erkannte er außerdem Van Morrisons »Whenever God Shines His Light on
Me«. Hannele und Ritva waren sehr gut. Sogar Jack merkte, daß ihnen das
Zusammenspiel zur zweiten Natur geworden war. Natürlich neigte er dazu, sie
sympathisch zu finden. Er war ihnen gegenüber positiv voreingenommen, bloß weil
sie als Paar alles überstanden hatten, was seine Mutter versucht haben mochte,
um sie auseinanderzubringen.
Jack hörte sie außerdem zwei traditionelle Stücke proben – »Kommt,
singet dem Herrn ein Lied« und »O komm, o komm, Emmanuel«. Letzteres war ein
Adventslied, und beide Lieder waren in Schottland bekannter als in Finnland,
wie er später von Hannele und Ritva erfuhr. Aber es seien Lieblingsstücke
seines Vaters gewesen.
»Die beiden hat uns William beigebracht«, sagte Ritva. »Uns ist es
egal, daß nicht Weihnachten ist.«
Sie tranken Tee in Hanneles und Ritvas überraschend schöner und
geräumiger Wohnung in einem jener grauen, nüchternen Gebäude, von denen die
Kirche im Felsen umgeben war. Hannele und Ritva hatten zwei Wohnungen mit Blick
auf die Tempelliaukio Kirkko zusammengelegt. Wie die Kirche wirkte auch ihre
Wohnung sehr modern – sparsam möbliert, an den Wänden nichts als
Schwarzweißfotografien in Alurahmen. Die beiden Frauen, mittlerweile Ende
Vierzig, waren gut gelaunt und ausgesprochen freundlich. Natürlich waren sie
auch
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