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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ihnen. Er wußte nicht, wie leid es ihm
tun würde – noch nicht.
    Die Aerobic-Trainerin war in der einunddreißigsten Woche
schwanger und erwartete ihr zweites Kind.
    »Ein anonymer Samenspender?« fragte Jack so nonchalant, wie es die
Umstände erlaubten. Sie waren beide nackt, lagen in seinem Zimmer im Torni im
Bett, und Marja-Liisa drückte Jacks Gesicht an ihren dicken Bauch, so daß er
spüren konnte, wie sich der einunddreißig Wochen alte Fetus darin bewegte.
    [802]  »Nein, mein Mann ist gestorben«, erklärte sie. »Wir hatten ein
zweites Kind geplant, aber ich habe fast drei Jahre gebraucht, bis ich mich
getraut habe, das zweite allein zu bekommen.«
    »Hast du einen Jungen oder ein Mächen?«
    »Einen vierjährigen Jungen.«
    Im Zusammenhang mit der Wiederholung seiner Reise an die Nordsee
fand Jack fast alles interessant, was mit einem Vierjährigen zu tun hatte. Er
spürte allerdings, daß dies weder die Zeit noch der Ort war, Marja-Liisa zu
sagen, wie leid es ihm tue, daß er keine Gelegenheit haben würde, ihren Sohn
kennenzulernen. (Er wollte sehr früh am anderen Morgen nach Amsterdam
abreisen.)
    Sie sagte, eine Freundin passe auf ihren Sohn auf, mache ihm sein
Abendessen und bringe ihn ins Bett. Sie könne nicht sehr lange bleiben. Daß sie
zur Schlafenszeit des Jungen noch nicht da sei, komme selten vor, und sie sei
stets wieder zu Hause und liege in ihrem eigenen Bett, wenn der Junge morgens
aufwache.
    Über die Beweglichkeit des einunddreißig Wochen alten Fetus konnte
Jack nur staunen, über die Liebeskünste der Aerobic-Trainerin dagegen weniger.
Er war noch nie mit einer Schwangeren im Bett gewesen und hatte keine Ahnung,
was er zu erwarten hatte. Wahrscheinlich hätte er sich weniger damit
beschäftigen sollen, wie aktiv Marja-Liisa war – das heißt, für eine Frau in
ihrem Zustand. (Schließlich hatte er zugesehen, wie sie die hüpfenden Frauen
der Aerobic-Gruppe angeleitet hatte, und er wußte, daß die unbequem aussehenden
Stellungen, die er in Schwangere Girls gesehen hatte,
größtenteils nicht vorgetäuscht gewesen sein konnten.)
    Erst später wurde ihm klar, was er eigentlich gewollt hatte, nämlich
nicht mit ihr schlafen, sondern sie einfach nur beim Einschlafen in den Armen
halten. Alles, was er sich wirklich wünschte, war, seine Hand auf ihren Bauch
zu legen und sich dabei vorzustellen, es gebe zwei Menschen, die er liebte – nicht bloß [803]  eine Frau, sondern auch das Kind, das
sie bald bekommen würde. Es war wunderbar gewesen, so einzuschlafen.
    Das Klopfen an der Tür war zuerst leise, dann nachdrücklicher. Es
war kein Klopfen wie das von Sami Salo, sondern eines, das er in seinen Traum
einbauen konnte – in dem Traum war Jack Vater.
    »Marja-Liisa, bist du da?« fragte eine Männerstimme auf dem Flur.
Dann wurde die Frage offenbar auf finnisch wiederholt.
    Die schwangere Aerobic-Trainerin war fort. Als Jack erwachte, war er
allein. Er ging ins Bad und schlang sich ein Handtuch um die Taille. Ein
Hotelbriefumschlag war mit einem Klacks Zahnpasta an den Spiegel geklebt. Wie
geschickt von ihr, ihm auf diese Art eine Nachricht zu hinterlassen. Ihm wurde
klar, daß er im Schlaf gesprochen haben mußte.
     
    Ich heiße
Marja-Liisa, nicht Michele. Wer ist Michele?
    Jack zerknüllte den Umschlag und warf ihn in den Abfalleimer im
Badezimmer. Das Handtuch um seine Taille festhaltend, ging er nachsehen, wer an
der Tür war. Er hatte das ungute Gefühl, daß er es bereits wußte. »Marja-Liisa
– ich weiß, daß du da bist«, sagte der Mann nur geringfügig lauter.
    Erst als Jack die Tür öffnete, sah er, daß der Mann den Vierjährigen
mitgebracht hatte. Doch was hätte der arme Kerl sonst auch tun können? Als
verantwortungsbewußter Vater ließ man einen Vierjährigen nicht allein.
    Für Jack war es überhaupt keine Frage, daß der junge Mann mit dem
dunkelblonden Haar Marja-Liisas Mann war – und zwar durchaus kein toter. (Und
wie ein anonymer Samenspender sah er auch nicht aus.) Etwaige Zweifel
verflogen, als er den Jungen betrachtete: Der Vierjährige hatte das
dunkelblonde Haar seines Vaters, doch sein ovales Gesicht und die
mandelförmigen Augen glichen denen seiner Mutter.
    [804]  »Ich hab’s gewußt«, sagte Marja-Liisas Mann. »Sie sind Jack
Burns. Marja-Liisa hat gesagt, sie hätte Sie im Fitness-Studio gesehen.«
    »Sie ist nicht hier«, sagte Jack zu ihm.
    Der unglückliche Ehemann blickte an Jack vorbei in das unaufgeräumte
Zimmer. Der kleine Junge

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