Bis ich dich finde
Kerk zu stimmen, die in der Tat so gewaltig sei, wie Kari Vaara sie
geschildert habe. Allerdings sei sie ständig verstimmt gewesen.
»William hätte nicht mal eine Gitarre stimmen können, geschweige
denn eine Orgel!« rief Ritva.
»Er hat sich nur unter der Bedingung, daß die Kirche zusätzlich
einen Orgelstimmer einstellt, bereit erklärt, die Orgel in der Oude Kerk zu
spielen«, sagte Hannele zu Jack.
»Es gab schon jemanden, der die Orgel vor jedem Konzert gestimmt
hat, aber der neue Orgelstimmer kam – auf Drängen deines Vaters – fast jeden
Tag«, sagte Ritva.
»Oder vielmehr jede Nacht«, verbesserte Hannele sie.
Da ging Jack auf, wer der zusätzliche Orgelstimmer gewesen war: der
teiggesichtige Jüngling, den Alice als »Wunderkind« bezeichnet hatte. Das junge
Genie, das Babypuder auf die ebenfalls gewaltige Orgelbank gestreut hatte, um
besser darauf hin- und herrutschen zu können: Frans Donker, der für Jack und
seine Mutter gespielt hatte – und eines Nachts, als er, das »Wunderkind«,
eigentlich die Orgel hätte stimmen sollen, auch für die gerade anwesenden
Huren.
»Man sagt, in der Oude Kerk spielt man für Touristen und
Prostituierte!« hatte Kari Vaara zu Alice und Jack gesagt. Vaara sei sehr stolz
auf William gewesen, erklärten Hannele und Ritva. William sei der beste Schüler
gewesen, den er je gehabt hatte, habe Vaara gesagt.
Doch Alice hatte gewollt, daß Jack seinen Vater als bloßen [800] Orgelstimmer sah; absichtlich hatte sie William in den Augen seines Sohnes
abgewertet.
»Irgend etwas ist in Amsterdam passiert«, sagte Jack zu Hannele und
Ritva. »Mein Dad hat aufgehört, uns zu folgen – irgend etwas muß passiert
sein.«
Erneut schüttelte Hannele den Kopf, ohne daß die blonden Löckchen
außer Form gerieten. »Die Anwältin hat einen Deal mit deiner Mutter gemacht«,
sagte Ritva. »Es war ein harter Deal, aber irgendwer mußte sie stoppen.«
»Für William war das kein Deal!« sagte Hannele wütend.
»Es war der beste Deal für Jack, Hannele«, sagte Ritva.
»Ich kann mich an keine Anwältin erinnern«, sagte Jack. »Was für
eine Anwältin?«
»Femke Soundso. Ihren Nachnamen weiß ich nicht mehr«, sagte Hannele.
»Irgendeine Super-Scheidungsanwältin. Sie hatte selbst gerade eine Scheidung
mit allen Schikanen hinter sich.«
Daß Jack geglaubt hatte, Femke wäre eine Prostituierte, war schon
fast komisch. Es hatte irgendeine absurde Geschichte darüber gegeben, wie sie
Prostituierte geworden sei, um ihren Exmann in Verlegenheit zu bringen. (Femke
war reich, wie sich Jack entsann, und dennoch war sie Hure geworden!) Was würde
man als Vierjähriger, dessen Erinnerungen von der eigenen Mutter manipuliert
wurden, eigentlich nicht alles glauben?
»Fang bei dem Polizisten an, Jack«, schlug Ritva vor. »Es gab da
einen Polizisten – er war der beste Freund deines Vaters.«
»Er hat dich dort herausgeholt – er war auch dein bester Freund, Jack«, sagte Hannele.
»Ja, ich kann mich an ihn erinnern«, sagte Jack. Er war ein netter
Kerl gewesen, dieser Nico Oudejans. Er hatte hellblaue Augen und hoch auf einem
Wangenknochen eine kleine Narbe in Form eines L gehabt. »Ich habe natürlich
gedacht, er wäre mit meiner Mutter befreundet«, sagte Jack zu Hannele und
Ritva. »Und ich habe gedacht, Femke wäre eine Prostituierte!«
[801] Sie saßen auf dem Ledersofa im Wohnzimmer. Mittlerweile hatte
sich Dunkelheit über die schimmernde Kuppel der Kirche im Felsen gebreitet. Die
beiden Frauen flankierten Jack: Sie legten den Arm um ihn.
»Jack, deine Mutter war eine
Prostituierte. Femke war bloß Anwältin«, sagte Hannele.
»Meine Mom war nur für eine Nacht Prostituierte!« stieß Jack hervor.
»Sie hat nur einen einzigen Freier angenommen, einen jungen Burschen. Sie hat
gesagt, er sei noch Jungfrau gewesen.«
Die beiden Frauen hielten ihn weiterhin im Arm. »Jack, niemand ist
bloß für eine Nacht Prostituierte«, sagte Ritva.
»Daß eine Prostituierte nur einen einzigen Freier annimmt, gibt es
nicht«, sagte Hannele. »Und schon gar nicht eine Jungfrau!«
»Laßt uns zusammen essen gehen!« rief Ritva plötzlich.
»Es sei denn, Jack hat ein Date«, sagte Hannele in neckendem Ton.
»Ich weigere mich, Jack mit einem Date zu teilen.« Jack saß einfach nur da und
starrte in die Dunkelheit vor dem Fenster.
»So wie er schaut, hat er ein Date«, sagte Ritva.
»Ja, er hat ein Date. Das sehe ich seinen Augen an«, sagte Hannele.
»Tut mir leid«, sagte Jack zu
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