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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Vierjähriger
gewesen als Marja-Liisas kleiner Sohn, aber Jack bezweifelte es.
    Der Kleine wollte, daß sein Vater ihn wieder auf den Arm nahm, was
dieser auch tat. Das Kind schmiegte das Gesicht in die Halsbeuge seines Vaters
und machte die Augen zu, als wollte es auf der Stelle einschlafen. Es war spät;
zweifellos hätte der Junge so gut wie überall einschlafen können.
    Jack machte ihnen die Zimmertür auf, wobei er hoffte, der Ehemann
würde der Landschaft des mißbrauchten Betts nicht noch einen letzten Blick
schenken, doch natürlich tat ihm der Betrogene den Gefallen nicht.
    Im Hinausgehen sagte er zu Jack: »Ich vermute, in diesem Film ist
Jimmy Stronach der Schurke.« Dann entfernte er sich den Flur entlang, während
der Kleine auf finnisch ein Lied sang.
    Jack ging ins Bad und betätigte die Toilettenspülung. Dabei [807]  stellte er fest, daß der Kleine die Toilettenbrille vollgepinkelt hatte. Wie
viele Vierjährige hatte er ihn vor dem Pinkeln nicht hochgeklappt. Jack sagte
sich unentwegt, daß sich Marja-Liisas Sohn, wenn er ein normaler Junge war –
und verhalten hatte er sich so –, nicht an diese schreckliche Nacht erinnern
würde, an keinen einzigen Moment.
    Er mußte überall nach dem Zettel suchen, auf dem Marja-Liisas Name
und Handynummer standen. Als er ihn schließlich gefunden hatte, rief er die
Nummer an. Er fühlte sich verpflichtet, ihr zu sagen, daß ihr Mann und ihr Sohn
ihm einen Besuch abgestattet hatten. Marja-Liisa meldete sich. Sie war zu Hause
und hatte bereits festgestellt, daß ihr Mann und ihr Sohn nicht da waren: Sie
klang panisch.
    Jack sagte, ihr Mann habe einen sichtlich gequälten Eindruck
gemacht, sich aber zusammengenommen. Er erzählte ihr außerdem, daß ihr kleiner
Junge müde gewirkt, anscheinend aber nichts mitbekommen habe.
    »Ich wünschte, du hättest mir die Wahrheit gesagt«, sagte Jack.
    »Die Wahrheit?« rief sie. »Was weißt du
schon von der Wahrheit?«
    Die ganze Strecke vom Hotel Torni zum Flughafen, der ein Stück
weit von Helsinki entfernt lag, war es dunkel. Es war sehr früh am Morgen, aber
es kam einem vor wie mitten in der Nacht. Natürlich regnete es. Kurz nach
Morgengrauen, als das Flugzeug abhob, sah er in den Wäldern weiße Flecken, bei
denen es sich offenbar um Schnee handelte.
    Er dachte, daß er nichts mehr wissen wollte; er hatte schon zu viel
von dem erfahren, was geschehen war. Keine Wahrheit mehr, dachte er immer
wieder – er hatte genug Wahrheit für ein ganzes Leben. Er wollte eigentlich gar
nicht nach Amsterdam, aber dorthin ging der Flug.

[808]  30
    Der Deal
    Bei seinem
zweiten Aufenthalt in Amsterdam stieg Jack im Grand ab, einem guten Hotel am
Oudezijds Voorburgwal, ungefähr fünf Gehminuten vom Rotlichtviertel entfernt.
Der Regen war ihm von Finnland hierher gefolgt. Jack ging im Vormittagsnieseln
durch das Viertel. Das Wetter schien die Touristen abzuschrecken.
    Das unverhohlene Auftreten der Prostituierten – sie standen in
Unterwäsche in Schaufenstern und Hauseingängen – verriet ihr Gewerbe. Doch
obwohl nicht zu verkennen war, was die halbbekleideten Frauen dort machten,
hätte man den Vierjährigen, den Jack kürzlich in Helsinki kennengelernt hatte,
überzeugen können, daß sie Ratgeberinnen seien. (Wovon ja auch Jack überzeugt
worden war.)
    Niemand sang ein Kirchenlied oder sprach ein Gebet; keine der Frauen
erweckte den Anschein, eine Anfängerin zu sein oder nur für einen Tag ihrem
Gewerbe nachgehen zu wollen.
    Die Frauen sprachen Jack an und lächelten, doch wenn ihr Lächeln
nicht augenblicklich erwidert wurde – wenn er einfach weiterging oder ihrem
Blick auswich –, wandten auch sie den Blick ab. Ein paarmal hörte er seinen
Namen, allerdings nur einmal als Frage. »Jack Burns?« fragte eine der
Prostituierten, als er an ihr vorbeiging. Er wandte nicht den Kopf und
reagierte auch sonst nicht. Normalerweise schien das »Jack Burns« Teil eines
Aussagesatzes zu sein, den er jedoch nicht verstand, weil er auf holländisch
oder in einer anderen Sprache gesprochen wurde, die nicht Englisch war. (Die
wenigsten Frauen waren Holländerinnen.)
    [809]  Jack ging in nördlicher Richtung bis zum Zeedijk, bloß um sich
selbst davon zu überzeugen, daß Tatoeërer-Theos altes Studio, De Rode Draak –
der entschwundene Rote Drache – tatsächlich nicht mehr da war. Ohne Mühe fand
er den kleinen St. Olofssteeg, doch Tatoeërer-Pieters Kellerstudio war schon
vor Jahren in den nahe gelegenen Nieuwebrugsteeg

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