Bis ich dich finde
Prostituierten. Die
Schüler und Schülerinnen, viele davon erst sechzehn, fragten sie oft nach dem
ersten Mal. Vor Jahren hatte sie einmal einen Ehemann gehabt; sie war drei
Jahre verheiratet gewesen, ehe er dahintergekommen war, daß sie anschaffen
ging.
Sie hatte eine Prellung im Gesicht. Nico fragte sie, ob sie sich ein
blaues Auge eingefangen habe – vielleicht von einem ihrer Freier von der
Straße.
»Nein, nein«, sagte sie. »Meine Freier würden sich nicht trauen,
mich zu schlagen.« Els war in einem Café auf der Nes, gleich beim Dam, in eine
Schlägerei geraten. Sie war einer ehemaligen Prostituierten über den Weg gelaufen,
die nicht mit ihr reden wollte. »Irgend so eine scheinheilige Fotze«, sagte
sie. »Du müßtest erst mal ihr Gesicht sehen, Nico.«
Jack fand, daß das Thema Scheinheiligkeit eine gute Überleitung zu
einem Gespräch über seinen Vater bildete. Els hatte ihn nicht nur gekannt,
sondern war auch ohne Alice’ Wissen in den frühen Morgenstunden oft in die Oude
Kerk gegangen, um William Orgel spielen zu hören. Soweit es Jack mitbekam,
hatte Els den Lärm des Herrn nicht gehört, bloß die Musik. Zu seiner Überraschung
erzählte sie ihm, sie habe ihn eines Abends in die alte Kirche mitgenommen.
[829] »Ich dachte, selbst wenn du dich nicht daran erinnern könntest,
William gehört zu haben, würde ein Teil von dir vielleicht den Klang in sich
aufnehmen«, sagte sie. »Aber ich mußte dich hintragen. Du hast den ganzen Weg
geschlafen und bist weder aufgewacht noch hast du den Kopf von meiner Brust
genommen. Du hast ein zweistündiges Konzert komplett verschlafen, Jackie. Du
hast nicht einen Ton gehört! Ich weiß nicht, was du davon in Erinnerung
behalten haben kannst.«
»Nicht viel«, gab er zu.
Jack wußte, wie versteckt die Orgelempore in der Oude Kerk lag. Sein
Vater konnte unmöglich gesehen haben, wie er am Busen der üppigen
Prostituierten schlief – angesichts dessen, wie sein Vater über dieses von Nico
sogenannte »Milieu« gedacht hatte, war das wahrscheinlich nur gut so.
Weil Saskia und Alice beliebter waren – weil sie mehr Freier hatten,
sagte Els –, war meist Els Jacks Babysitterin oder »Kindermädchen«, wie sie das
nannte, gewesen.
»Und ich war stärker als deine Mutter oder Saskia, deshalb mußte ich
dich ständig tragen!« rief sie aus. Sie hatte ihn von Bett zu Bett geschleppt.
»Ich fand immer, du warst wie eine von uns, eine von den Prostituierten«, sagte
sie zu Jack. »Weil du nie bloß einmal ins Bett gegangen bist; weil ich dich
immer aus einem Bett in ein anderes gesteckt habe!«
»Ich weiß noch, daß du dich fast mit Femke geprügelt hättest«, sagte
er.
»Ich hätte sie umbringen können. Ich hätte sie wirklich umbringen
sollen, Jackie!« rief Els. »Aber Femke hatte den Deal ausgehandelt, und
irgendwas mußte geschehen. Nur war es eben ein schlechter Deal – das hat mich
so wütend gemacht. Anwälten ist es egal, was gerecht ist. Für einen Anwalt ist
ein Deal dann gut, wenn beide Parteien zustimmen.«
»Irgendwas mußte geschehen, Els – genau wie du gesagt hast«, meinte
Nico.
[830] »Halt’s Maul, Nico«, sagte Els zu
ihm. »Trink deinen Kaffee.«
Es war guter Kaffee; Marieke hatte ihnen auch Plätzchen gebacken.
»Hat mein Vater gesehen, wie ich Amsterdam verlassen habe?« fragte
Jack.
»Er hat gesehen, wie du Rotterdam verlassen hast, Jackie. Er hat zugesehen, wie das Schiff auslief. Femke hat ihn
hingebracht; sie hat ihn mit ihrem Wagen nach Rotterdam gefahren. Saskia wollte
nichts davon wissen. Sie hat deine Mutter, dich und mich zum Bahnhof in
Amsterdam begleitet, aber das war auch schon alles an Drama, was sie sich zumuten wollte. Das war Saskias Wort für Abschiedsszenen – Drama hat sie das genannt.«
»Du bist also im Zug mit uns nach
Rotterdam gefahren?«
»Ich bin mit euch zum Hafen gefahren. Ich habe euch beide an Bord
gebracht, Jackie. Deine Mutter war in nicht viel besserer Verfassung als dein
Vater. Ihr schien gerade zu dämmern, daß sie William nach diesem Tag nie
wiedersehen würde, obwohl genau das der Deal war, den sie angeblich wollte.«
»Du hast meinen Vater am Hafen gesehen?«
»Diese Scheiß-Femke wollte nicht aussteigen, aber dein Vater ist
ausgestiegen«, sagte Els. »Er hat geweint und geweint, er war völlig fertig. Er
hat sich auf den Boden geworfen. Ich mußte ihm vom Pflaster aufhelfen. Ich
mußte ihn praktisch zum Mercedes dieser Scheiß-Anwältin tragen.«
»Hatte Tatoeërer-Pieter
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