Bis ich dich finde
andere Seite des Damrak, vom
Rotlichtviertel weg. Sie schoben sich zwischen Strömen von Einkaufslustigen
hindurch über den Nieuwendijk in die winzige Sint Jacobsstraat, wo Els eine
Wohnung im ersten Stock hatte. Ihr Fenster mit dem roten Licht war ein bißchen
ungewöhnlich für das Fenster einer Prostituierten, nicht nur, weil es außerhalb
des einschlägigen Viertels, sondern auch, weil es über Straßenhöhe lag. Doch
als Jack überlegte, daß Els ihr Leben als Prostituierte gewissermaßen von einer
höheren Warte aus sah – sie war auf einem Bauernhof großgeworden, und sah auch
das Leben auf dem Bauernhof von einer höheren Warte aus –, fand er, daß ihr
Zimmer über der Straße der Ort war, wo sie hingehörte.
Tagsüber begrüßte sie Passanten mit lärmender Herzlichkeit, doch
nachts, so erfuhr Jack von Nico, war sie kritischer: Wenn Betrunkene oder
Rauschgiftsüchtige auf die Straße pinkelten, richtete sie ihre
Polizeitaschenlampe auf sie und machte sie lautstark zur Schnecke. In der Sint
Jacobsstraat war Els zwar immer noch eine Prostituierte, aber sie war zugleich
eine selbsternannte Gesetzeshüterin. Drogen hatten das Rotlichtviertel
verändert und Els von dort vertrieben. Alkohol und Drogen hatten ihre einzigen
Kinder umgebracht. (Zwei junge Männer – beide waren mit Mitte Zwanzig
gestorben.)
Jack hatte fälschlich geglaubt, Els sei ungefähr so alt wie seine
Mutter oder nur geringfügig älter. Doch schon ein Blick von Straßenhöhe aus zu
ihr hinauf verriet ihm, daß sie eine Frau in den Siebzigern war. Als Jack vier
Jahre alt gewesen war, mußte sie Mitte Vierzig gewesen sein.
»Jackie!« rief Els und warf ihm Kußhände zu. »Mein Kleiner ist
wieder da!« verkündete sie der Sint Jacobsstraat. »Jackie, Jackie – komm, laß
dich von deinem alten Kindermädchen drücken! Du auch, Nico. Du darfst dich auch
drücken lassen, wenn du willst.«
[827] Sie gingen die Treppe hinauf. Das Fensterzimmer bildete nur einen
kleinen Teil der Wohnung, in der es makellos sauber war – sämtliche Zimmer
wurden beherrscht vom Geruch der Kaffeemühle in der Küche. Els hatte eine
Haushälterin, eine viel jüngere Frau mit Namen Marieke, die sofort Kaffee zu mahlen
begann. Als ehemaliges Bauernmädchen haßte Els das Saubermachen, wußte aber,
wie wichtig es war, Ordnung zu halten. Die Berufsausübung teilte sie sich mit
einem anderen »Mädchen«, wie sie Jack erklärte; die Frauen benutzten
abwechselnd das Fensterzimmer, obwohl Petra, die andere Prostituierte, woanders
wohnte.
»Petra ist die junge, ich bin die alte!« rief Els fröhlich aus.
(Jack lernte Petra nicht kennen, aber Nico erzählte ihm, sie sei
einundsechzig.)
Els, laut eigener Aussage »so um die Fünfundsiebzig«, sagte, die
meisten ihrer Stammfreier besuchten sie vormittags. »Nachmittags machen sie ein
Schläfchen, und um abends auszugehen, sind sie zu alt.« Die einzigen Freier,
die sie abends besuchten, waren die von der Straße – das heißt, falls sie
zufällig vorbeikamen, wenn Els an ihrem Fenster im ersten Stock saß. Meistens
ließ sie Petra am Fenster sitzen. »Abends schlafe ich normalerweise«, gestand
Els und drückte Jacks Unterarm. »Oder ich gehe ins Kino – besonders wenn einer
von deinen Filmen läuft, Jackie!«
Els war immer eine üppige Frau mit eindrucksvollem Dekolleté
gewesen. Ihr Busen wölbte sich so ehrfurchtgebietend wie der Bug eines großen
Schiffes; beim Gehen wiegten sich ihre Hüften. Sie war füllig, aber nicht fett,
obwohl Jack bemerkte, wie schlaff ihre Unterarme und die Rückseite ihrer
Oberarme waren –, und sie hinkte leicht. Sie habe Herzprobleme, behauptete sie,
»und vielleicht ein Blutgerinnsel im Gehirn«. Els deutete düster auf ihren
Kopf; sie trug immer noch eine platinblonde Perücke.
[828] »Jeden Tag, Jackie«, sagte sie und küßte ihn auf die Wange,
»nehme ich so viele Tabletten, daß ich mit dem Zählen gar nicht mehr
nachkomme!«
Außerdem wollte sie Nico wissen lassen, daß sie Probleme mit ihrem
Vermieter habe; vielleicht könne die Polizei etwas gegen den neuen Hausbesitzer
unternehmen. »Ihn erschießen, zum Beispiel«, sagte sie lächelnd zu Nico und
küßte ihn auf die Wange –, dann bekam auch Jack noch einen Kuß. Es gebe Streit
um die Miete und irgendein Problem mit der Steuer; ihrer Meinung nach sei der
Vermieter ein Arschloch.
Els war seit langem Wortführerin des Prostituiertenverbandes und
sprach regelmäßig vor Oberschülern über das Leben von
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