Bis ich dich finde
selbst gewesen – nämlich Wild Bills Drehbücher. Er hatte nicht
nur von anderen, besseren Stoffen abgekupfert, sondern er war auch jedesmal zu
weit gegangen: Jedesmal trieb er die Parodie über jede vernünftige Grenze
hinaus. Wenn man sich über alles lustig macht, bleibt dem Zuschauer nichts und
niemand, den er mögen kann. Emmas Geschichte dagegen war von Einfühlung
getragen – sowohl in die zu zart gebaute Schundleserin als auch in den
Pornostar und schlechten Drehbuchautor mit dem zu großen Penis. Vanvleck hatte
noch nie ein einfühlsames Drehbuch verfilmt.
Jack wünschte, er könnte Emma fragen, was sie von der Idee hielt,
glaubte andererseits aber nicht unbedingt, daß sie sich im Grabe umdrehen
würde, wenn er mit Wild Bill Vanvleck als Regisseur zusammenarbeitete.
Er ging wieder hinaus in den Regen, vorbei an der Casa Rosso, wo man
Pornofilme und Live-Sex-Shows zeigte und Ratschläge erteilte, wie er einmal
geglaubt hatte. Er kam nicht in Versuchung, sich eine Show anzusehen, nicht
einmal zwecks Recherche für Die Schundleserin.
Er ging noch einmal zum Polizeirevier in der Warmoesstraat, [834] aber
Nico war im Rotlichtviertel unterwegs. Zwei junge Polizisten, beide in Uniform,
sagten Jack, sie fänden William Vanvlecks Fernsehserie über Polizisten der
Mordkommission einigermaßen authentisch. Wild Bill hatte geraume Zeit im Revier
in der Warmoesstraat zugebracht und war mit echten Polizisten im Viertel auf
Streife gegangen. Daß echten Polizisten eine Fernsehserie über Polizisten
gefiel, war ein gutes Zeichen.
Jack trainierte in einem Fitness-Studio am Rokin. Es war ein gutes
Studio, aber die Musik war zu laut und dröhnte ohne Unterbrechung, so daß er
das Gefühl hatte, er bewege sich viel zu schnell, obwohl er sich in
Wirklichkeit Zeit ließ. Sein Termin bei Femke, den Nico vereinbart hatte, war
erst um vier Uhr nachmittags. Er hatte keine Eile. Als Jack aus dem Fitness-Studio
ins Grand zurückkehrte, bekam er am Empfang ein Päckchen, das Nico für ihn
abgegeben hatte – eine Videokassette von Vanvlecks Polizeiserie.
Jack duschte und rasierte sich, zog etwas Anständiges an und verließ
erneut das Hotel. Die Anwaltskanzlei von Marinus und Jacob Poortvliet befand
sich am Singel. Femke, die Mutter der beiden, hatte sich zur Ruhe gesetzt. Jack
sah mit einem Blick, warum es für seine Mutter so leicht gewesen war, ihm zu
suggerieren, Femke bewohne ein Prostituiertenzimmer in der Bergstraat. Die
Kanzlei der Poortvliets lag ungefähr auf halbem Weg zwischen der Bergstraat und
dem Korsjespoortsteeg, also in unmittelbarer Nähe der Straßen, in denen die
Prostituierten der gehobeneren Preisklasse ihrem Gewerbe nachgingen.
An der Kanzlei erschienen ihm einige kleinere Details vertraut;
sowohl die Autos auf dem Singel als auch die Fußgänger auf dem Bürgersteig
waren von dem Ledersessel und dem großen Ledersofa aus zu sehen. Ein paar
Landschaften an den Wänden des Büros kamen ihm ebenfalls bekannt vor. Er
erinnerte sich sogar an den Orientteppich.
Weil sich Femke verspätete, unterhielt sich Jack mit ihren [835] Söhnen, konservativ gekleideten Herren Mitte Fünfzig, die 1970 noch studiert
hatten. Doch selbst Menschen ihrer Generation erinnerten sich noch an den
umstrittenen Organisten William Burns, der frühmorgens in der Oude Kerk für die
Prostituierten gespielt hatte. Für Studenten gehörten die Orgelkonzerte in der
Alten Kirche zu den beliebtesten nächtlichen Unterhaltungen.
»Manche von uns haben Ihren Vater für einen Aktivisten, einen
Sozialreformer, gehalten. Immerhin hat er tiefes Mitgefühl für die Nöte der
Prostituierten geäußert«, sagte Marinus zu Jack.
»Andere, zum Beispiel auch viele Prostituierte, waren anderer
Ansicht – sofern sie nicht zu Williams Publikum in der Alten Kirche gehörten.
In ihren Augen war William ein religiöser Spinner. Die Prostituierten zu
bekehren, hieß nichts anderes, als sie von der Prostitution abzubringen«,
erklärte Jack.
»Aber gespielt hat er großartig«, sagte Marinus. »Ganz gleich, was
man von William hielt, er war ein hervorragender Organist.«
Die Poortvliets waren eine Familiensozietät. Sie übernahmen nicht
nur Scheidungen und Sorgerechtsfälle, sondern schlichteten auch
Erbschaftsstreitigkeiten und waren in der Nachlaßplanung tätig. Die
Schwierigkeit in William Burns’ Fall hatte darin gelegen, daß er nach wie vor
schottischer Staatsbürger gewesen war, obwohl er ein Visum gehabt hatte, das es
ihm gestattete, für
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