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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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aussieht«, gestand die Große.
    [107]  »Ich hoffe, das macht dir nichts aus, Jack«, sagte die Kleine.
    Aber Jack war vier. Wie ist es möglich, daß er sich auch nur
einigermaßen genau daran erinnerte, was die Große und die Kleine gesagt hatten?
Ist es nicht wahrscheinlicher, daß er noch Tage, Wochen, Monate nachdem er die
beiden jungen Frauen kennengelernt hatte, seine Mutter fragte, was diese Sätze
auf der Treppe eigentlich hatten bedeuten sollen, und sie ihm sagte, was er
ihrer Meinung nach hören sollte? Vielleicht war das, woran er sich »erinnerte«,
gar nicht das, was die Große und die Kleine gesagt hatten, sondern vielmehr
Alice’ unwiderrufliche Interpretation der Tatsache, daß William sie und Jack
verlassen hatte.
    Jack erinnerte sich daran: Als seine Mutter weiterging, die Treppe
hinauf, ließ er ihre Hand nicht los. Die Musikstudentinnen hielten mit ihnen
Schritt, bis zur dritten Etage. Jack merkte, daß seine Mutter erregt war, denn
sie blieb vor der Tür zu ihrem Zimmer stehen und kramte in ihrer Handtasche
nach dem Schlüssel. Sie hatte vergessen, daß Jack ihn in der Tasche hatte – das
gehörte zu ihrem Ritual.
    »Hier«, sagte er und reichte ihr den Schlüssel.
    »Du hättest ihn verlieren können«, sagte sie. Jack wußte nicht, was
er darauf antworten sollte. Er hatte sie noch nie so fahrig erlebt.
    »Ursprünglich wollten wir nur Jack kennenlernen«, fuhr die Große
fort.
    »Das mit der Tätowierung kam erst später«, fügte die Kleine hinzu.
    Alice ließ sie eintreten. Wieder hatte Jack das Gefühl, daß seine
Mutter die beiden bereits kannte. Drinnen schaltete Alice alle Lampen an. Die
Große kniete wieder vor Jack nieder. Vielleicht wollte sie sein Gesicht erneut
in die Hände nehmen, doch sie hielt sich zurück und sah ihn nur an.
    »Wenn du mal groß bist, Jack«, sagte sie, »wirst du eine Menge
Mädchen kennenlernen.«
    [108]  »Warum?« fragte Jack.
    »Paßt auf, was ihr ihm sagt«, warnte Alice sie.
    Auch die Kleine mit dem hübschen Gesicht und dem langen Haar kniete
vor Jack nieder.
    »Es tut uns leid«, sagten die beiden im Chor. Jack wußte nicht, ob
sie mit ihm oder mit seiner Mutter sprachen.
    Alice setzte sich auf das Bett und seufzte. »Erzählt mir von dieser
Tätowierung, die ihr gemeinsam haben wollt«, sagte sie und starrte auf die
neutrale Zone zwischen den jungen Frauen. Sie vermied es, eine von beiden
anzusehen. Alice spürte gewiß die Aura der Lüsternheit, die diese beiden
verwegenen Frauen umgab, und sie wußte, daß sie einen starken Eindruck auf Jack
machten.
    Die Tätowierung, die die Große und die Kleine sich teilen wollten,
war eine weitere Variante des gebrochenen Herzens. Dieses sollte senkrecht
durchgebrochen sein. Die linke Hälfte sollte auf der Brust über dem Herzen der
Großen sein, die rechte auf der Brust über dem Herzen der Kleinen. Nicht sehr
originell, und sogar Jack begriff, daß in dem Wunsch, sich so tätowieren zu
lassen, wenig Originalität war. Zum einen waren gebrochene Herzen recht
gewöhnlich, zum anderen gab es auch nur eine begrenzte Anzahl von
Möglichkeiten, sie zu zeichnen. Und wo das Motiv eines gebrochenen Herzens
hingehörte, verstand sich eigentlich von selbst.
    In jener Zeit war eine Tätowierung noch so etwas wie ein Souvenir –
eine Erinnerung an eine Reise, an die große Liebe, an einen überwältigenden
Kummer, an den Heimathafen. Der Körper war wie ein Fotoalbum; die Tätowierungen
brauchten keine guten Fotos zu sein. Sie waren vielleicht nicht besonders
gekonnt oder ästhetisch ansprechend, aber sie waren auch nicht häßlich, nicht
absichtlich jedenfalls. Und die alten Tätowierungen waren immer sentimental; um
sich fürs Leben zeichnen zu lassen, mußte man schon ein bißchen sentimental
sein.
    [109]  Wie konnten Tätowierungen originell sein, wenn sie etwas ganz
Gewöhnliches symbolisierten? Deine Gefühle für deine Mutter, die Geliebte, die
dich verlassen hat, deine erste Fahrt zur See. Aber das waren meist
Matrosentätowierungen – Seeleute neigten offenbar zur Sentimentalität.
    Und hier waren nun also zwei Musikstudentinnen – die Große und die
Kleine. Sie mochten vulgär sein, doch Alice schien keine Abneigung gegen sie zu
empfinden. Und sie waren alt genug, um sich tätowieren zu lassen. Selbst Jack
sah, daß sie deutlich älter waren als Ingrid Moe.
    Die Große hieß Hannele und trug unter den ausgebleichten
Rentieren und dem Rollkragenpullover keinen BH .
Trotz Jacks frühreifem Interesse für

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