Bis ich dich finde
Jack sein Dessert gegessen hatte, fragte Alice die [102] Kellnerin,
ob sie wisse, wo sie eine Tätowierung bekommen könne. Die Antwort hatte sie
nicht erwartet.
»Ich hab gehört, im Hotel Torni ist eine Tätowiererin«, sagte die
Kellnerin. »Sie ist ein Hotelgast, eine Ausländerin – eine gutaussehende Frau,
aber traurig.«
»Traurig?« fragte Alice. Sie schien überrascht. Jack konnte sie
nicht ansehen – selbst er wußte, daß sie traurig war.
»Das hab ich jedenfalls gehört«, sagte die Kellnerin. »Sie hat einen
kleinen Jungen dabei, genau wie Sie.« Sie sah Jack an.
»Ich verstehe«, sagte Alice.
»Sie ist oft in der American Bar, aber die Tätowierungen macht sie
auf ihrem Zimmer – manchmal, wenn der Kleine schläft«, fuhr die Kellnerin fort.
»Sehr interessant«, sagte Alice. »Aber ich suche einen anderen
Tätowierer, einen Mann vielleicht.«
»Na ja, da wäre Sami Salo, aber die Frau
im Torni ist besser.«
»Erzählen Sie mir mehr von Sami Salo.«
Die Kellnerin seufzte. Sie war eine kleine, stämmige Frau in einem
zu engen Kleid, und ihre Füße schienen zu schmerzen, denn sie verzog bei jedem
Schritt das Gesicht, und sie hatte wabbelige Oberarme, dabei war sie nicht viel
älter als Alice. Unter der Schürze hatte sie ein Geschirrtuch, mit dem sie nun
den Tisch abwischte.
»Hören Sie zu, Schätzchen«, sagte sie leise, »lassen Sie Sami lieber
in Ruhe. Wenn er mit Ihnen sprechen will, weiß er, wo er Sie findet.«
Wieder schien Alice überrascht – vielleicht, weil die Kellnerin
wußte, daß sie die Tätowiererin im Hotel Torni war.
Allerdings erforderte das keinen besonderen Scharfblick. Wie viele junge Frauen
mit Kind, die ein amerikanisch klingendes Englisch sprachen, mochte es in
Helsinki wohl geben?
»Ich möchte mit Sami Salo sprechen«, sagte Alice. »Ich möchte ihn
fragen, ob er jemanden, den ich kenne, tätowiert hat.«
[103] »Aber Sami Salo will nicht mit Ihnen sprechen«, sagte die
Kellnerin. »Sie schnappen ihm Kunden weg, und das mag er nicht. Das hab ich
jedenfalls gehört.«
»Ich bin beeindruckt, was Sie alles hören«, sagte Alice.
Die Kellnerin wandte sich auf ihre barsche Art zu Jack. »Du siehst
müde aus«, stellte sie fest. »Schläfst du auch genug? Hält die Tätowiererei
dich wach?«
Jacks Mutter stand auf und streckte ihm die Hand hin. Das Restaurant
war voll, und es ging sehr laut zu – Finnen können beim Essen und Trinken einen
erstaunlichen Lärm erzeugen. Der Junge konnte nicht genau hören, was seine
Mutter zu der Kellnerin sagte. Er vermutete, daß es etwas in der Art von »Danke
für Ihre Anteilnahme« war, oder vielleicht eher »Wenn Sie mal abends ins Torni
kommen, werde ich Ihnen mit Freuden eine Tätowierung stechen, an einer Stelle,
wo es richtig weh tut«. Möglicherweise ließ sie Sami Salo durch die Kellnerin
etwas ausrichten. Daß sie mit Sami befreundet war, merkte sogar Jack.
Sie gingen nicht mehr ins Salve. Sie aßen im Torni und betrachteten
die American Bar als ihr Zuhause.
Aber was ist mit der Kirche? fragte sich Jack vor dem
Einschlafen. Warum erkundigten sie sich nicht nach der Orgel, auf der sein
Vater in Helsinki vielleicht spielte? Wo waren die entehrten jungen Frauen, die
das Pech gehabt hatten, William zu treffen? Und was war mit Sibelius?
Jack fragte sich auch, ob seine Mutter es leid wurde, nach seinem
Vater zu suchen – oder schlimmer: ob sie plötzlich fürchtete, ihn zu finden.
Vielleicht war ihr bewußt geworden, wie schrecklich es sein würde, William
endlich mit seiner Pflicht und Schuldigkeit zu konfrontieren, nur um dann zu
sehen, wie er sich mit einem Schulterzucken abwandte. Gewiß wußte er, daß sie
ihn suchten. Die Welt der Kirchenmusik und die Welt des Tätowierens waren beide
klein. Was, wenn William beschloß, sich [104] ihnen zu stellen? Was wollten sie
ihm eigentlich sagen? Wollten sie denn wirklich, daß er aufhörte davonzulaufen
und bei ihnen lebte? Wo sollte er mit ihnen leben?
Wenn man von Selbstzweifeln geplagt wird, ist Helsinki kein guter Ort.
Alice schien unsicher zu sein. Wenn sie nachts aufstand, um zur Toilette zu
gehen, weckte sie Jack und sagte ihm, er müsse sie durch den langen Korridor
begleiten. Auch er durfte das Zimmer nicht allein verlassen. (In manchen
Nächten pinkelte Jack ins Waschbecken.) Und an den Abenden, an denen sie in der
American Bar Kunden auflas, sah Jack ihr oft aus der Krähennestperspektive des
Gitteraufzugs zu, der anscheinend für immer in der ersten
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