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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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haben, die er in einer Kirche kennengelernt hatte, und
kein Stück Kirchenmusik würde auch nur ein einziges Mitglied der Gemeinde dazu
bringen können, Alice und Jack zu helfen, ihn aufzuspüren.
    Wieder einmal würde William verschwunden sein, so wie jeder Chor und
alle anderen menschlichen Laute hinter der großartigsten Musik aus der besten
Orgel in der gewaltigsten Kathedrale verschwinden – selbst Lachen, selbst
Wehklagen, selbst jener Kummer, dem Jacks Mutter sich nachts überließ, wenn sie
glaubte, ihr Sohn schlafe tief und fest.
    »Adieu, Oslo«, flüsterte Jack in dem Korridor, durch den Ingrid Moe
mit einem, wie er glaubte, unversehrten, nicht entzweigerissenen Herzen
gegangen war.
    Seine Mutter beugte sich zu ihm hinunter und küßte seinen Nacken.
»Hallo, Helsinki«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
    Wieder einmal griff Jack nach ihrer Hand. Es war das einzige, von
dem er genau wußte, wie er es zu tun hatte. Wie sich zeigen sollte, war es so
ziemlich das einzige, was er überhaupt wußte.

[100]  5
    Rückschlag in Finnland
    Sie
reisten den weiten Weg wieder zurück nach Stockholm und nahmen dort die
Nachtfähre nach Helsinki, über den Finnischen Meerbusen. Es war so kalt, daß
die Gischt auf Jacks Gesicht gefror, wenn er länger als eine Minute draußen
war. Einige Finnen und Schweden standen bis Mitternacht singend, saufend und
gänzlich unbeeindruckt vom Wetter auf dem vereisten Deck. Alice bemerkte, daß
sie sich auch übergaben. Noch am besten erging es denen, die das auf der
Leeseite des Schiffs erledigten. Am nächsten Morgen sah Jack ein paar Finnen
und Schweden, die das Pech gehabt hatten, gegen den Wind anzuspeien.
    Von den Betrunkenen – es waren viele junge Leute darunter – erfuhr
Alice, daß das Hotel Torni in Helsinki dem Budget einer reisenden Tätowiererin
am ehesten entsprach. Die sogenannte American Bar, die zum Hotel gehörte, war
ein beliebter Treffpunkt für finanziell gut versorgte Studenten. Einer der
Finnen oder Schweden an Deck sagte, die American Bar sei ein Ort, wo man
verwegene Frauen kennenlernen könne. »Verwegene Frauen« waren genau das, was
Tochter Alice suchte, denn »verwegen« bedeutete ihrer Meinung nach, daß diese
Frauen (und die Männer, die diese Frauen kennenlernen wollten) Tätowierungen
gegenüber aufgeschlossen sein würden.
    Das Hotel hatte bessere Tage gesehen. Weil der alte, mit
Eisengittern versehene Aufzug »vorübergehend« außer Betrieb war und ihr Zimmer
in der dritten Etage lag, machten Alice und Jack innige Bekanntschaft mit der
Treppe, die sie Hand in Hand hinaufgingen. Ihr Zimmer hatte weder Bad noch
Toilette. Es gab ein Waschbecken – allerdings riet man ihnen davon ab, das
Wasser [101]  zu trinken – und den Ausblick auf ein Gebäude, das eine Oberschule zu
sein schien. Jack setzte sich auf die Fensterbank und betrachtete sehnsüchtig
die Schüler – sie schienen viele Freunde zu haben.
    Zum Bad und zur Toilette, die Jack und seine Mutter mit vielen
anderen Hotelgästen teilten, war es ein weiter Weg durch den verwinkelten
Korridor. Das Hotel hatte hundert Zimmer; eines Tages, als Jack sich
langweilte, brachte er seine Mutter dazu, sie mit ihm zu zählen. Weniger als
die Hälfte verfügte über ein eigenes Badezimmer.
    Dennoch hatte Alice recht gehabt, als sie sich für das Hotel Torni
entschieden hatte. Sie machte von Anfang an gute Geschäfte mit den Gästen der
American Bar. Während Jack nur wenige der Frauen, die er sah, schön fand – und
er hätte nicht sagen können, wieviel Verwegenheit sie besaßen –, waren viele
von ihnen und noch mehr junge Männer mutig genug, sich tätowieren zu lassen.
Aber beim Tätowieren sind Trinker auch Bluter. In Helsinki sah Jack seine
Mutter viele Papiertücher verbrauchen.
    In einer Woche verdiente Alice beinahe so viel wie bei Tatovør-Ole
in der Weihnachtszeit. Oft schlief Jack beim Surren der Maschine ein. Wieder
einmal konnte man sagen, daß sie in den Nadeln schliefen.
    Im Restaurant Salve beherzigten Alice und Jack den Rat einer
rechthaberischen Kellnerin und bestellten nicht gebratenen Weißfisch oder
Zander, sondern poschierten Saibling. Als Vorspeise wählten sie höflich die
Rentierzunge, hauptsächlich weil es immer schwieriger wurde, sie zu vermeiden.
Zu Jacks Überraschung war sie keineswegs gummiartig und schmeckte sehr gut. Als
Dessert bestellte er Moltebeeren. Sie hatten einen dunklen Goldton, und der
leicht säuerliche Geschmack paßte hervorragend zu dem Vanilleeis.
    Erst als

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