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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Etage eingefroren
war.
    Wenn ein potentieller Kunde entschlossen war, sich tätowieren zu
lassen, blickte Alice zu dem stillgelegten Aufzug und nickte Jack zu, der darin
saß und aussah wie ein kleiner Junge in einem Vogelkäfig.
    Alice führte den Kunden zur Treppe. Jack flitzte aus dem Aufzug und
rannte hinauf in die dritte Etage. Meist wartete er vor der Zimmertür.
    »Na, so was, du hier, Jack?« sagte seine Mutter dann. »Willst du
eine Tätowierung?«
    »Nein, danke«, erwiderte Jack immer. »Dafür bin ich noch zu klein.
Ich will nur zusehen.«
    Es war vielleicht ein albernes Ritual, aber so machten sie es immer,
und sie blieben dabei. Der Kunde erkannte, daß sie ein Team waren.
    Nach der dritten Woche in Helsinki hatte Jack Sibelius
vollkommen vergessen. Zwei junge (und verwegen wirkende) Frauen sprachen Alice
in der American Bar an. Sie wollten eine Tätowierung – eine gemeinsame
Tätowierung. In dem Aufzug eine Etage über ihnen konnte Jack nicht genau
verstehen, was sie sagten.
    [105]  »Es gibt keine gemeinsamen Tätowierungen«, sagte Alice.
    »Natürlich gibt es die«, erwiderte die Größere der beiden.
    Vielleicht sagte die Kleinere: »Wir haben auch Sie-wissen-schon-was
gemeinsam gemacht. Warum also keine gemeinsame Tätowierung?«
    Vom stillgelegten Aufzug aus sah Jack, wie seine Mutter den Kopf
schüttelte. Das war nicht das übliche Signal. Er hatte sie den Kopf schütteln
sehen, wenn ein junger Mann zu betrunken gewesen war oder wenn zwei oder mehr
Männer gemeinsam mit auf ihr Zimmer gehen wollten; mehr als einen Mann ließ sie
nicht in das Zimmer. Diese beiden Frauen – die Große und die Kleine– waren
anders. Es hatte den Anschein, als wäre Alice unbehaglich zumute. Jack dachte,
daß seine Mutter sie vielleicht schon kannte.
    Alice drehte sich abrupt um und ließ die beiden stehen. Doch die
verwegenen jungen Frauen folgten ihr und redeten auf sie ein. Jack sprang aus
dem Aufzug, als er seine Mutter die Treppe hinaufgehen sah. Die Große und die
Kleine blieben ihr auf den Fersen.
    »Wir sind doch nicht etwa zu jung?« sagte die Große.
    Alice schüttelte abermals den Kopf. Sie ging weiter die Treppe
hinauf, und die beiden taten dasselbe.
    »Du bist bestimmt Jack«, sagte die Kleine und sah die Treppe hinauf
zu ihm hoch. Er hatte das Gefühl, daß sie genau wußte, wohin sie sehen mußte.
»Wir sind Musikstudentinnen«, sagte die Kleine zu ihm. »Ich studiere
Kirchenmusik, sowohl Gesang als auch Orgel.«
    Alice blieb stehen, als wäre sie außer Atem. Die beiden Frauen
holten sie auf dem Absatz zwischen dem Erdgeschoß und der ersten Etage ein. In
der ersten Etage stand Jack und sah auf die drei hinab.
    »Hallo, Jack«, sagte die Große. »Ich
spiele Cello.«
    Sie war nicht so groß wie Ingrid Moe – und auch nicht so [106]  atemberaubend schön –, doch sie hatte dieselben langen, schlanken Hände. Ihr
lockiges Haar war so kurz wie das eines Jungen, und sie trug einen
Rollkragenpullover aus Baumwolle und darüber einen alten Skipullover mit einer
Herde verblaßter Rentiere.
    Die andere Frau, die kleinere, war etwas pummelig und hatte ein
hübsches Gesicht und langes, dunkles Haar, das bis zu ihren Brüsten reichte.
Sie trug einen kurzen, schwarzen Rock, eine schwarze Strumpfhose, kniehohe
schwarze Stiefel und einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt, der ihr zu groß
war. Der Pullover sah sehr weich aus. Es waren keine Rentiere darauf.
    »Musikstudentinnen«, wiederholte Alice.
    »An der Sibelius-Akademie, Jack«, sagte die Große. »Hast du mal
davon gehört?« Der Junge gab ihr keine Antwort. Er sah nur auf seine Mutter.
    »Sibelius…«, sagte Alice, und es klang, als täte ihr das Wort in der
Kehle weh.
    Die Kleine, Pummelige, mit dem hübschen Gesicht sah die Treppe
herauf und lächelte Jack zu. »Du bist eindeutig Jack«, sagte sie.
    Die Große kam, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, herauf. Sie
kniete vor Jack nieder und nahm sein Gesicht in ihre langen, ein wenig
klebrigen Hände. »So was«, sagte sie, und ihr Atem roch nach Kaugummi mit
Fruchtgeschmack. »Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.«
    Jacks Mutter kam mit der anderen die Treppe herauf. »Nimm deine
Hände weg«, sagte sie zu der Großen, die sogleich aufstand und einen Schritt
von Jack zurücktrat.
    »Tut mir leid, Jack«, sagte sie.
    »Was wollt ihr?« fragte Alice die Musikstudentinnen.
    »Das haben wir doch gesagt: eine Tätowierung«, sagte die Kleine.
    »Wir wollten auch wissen, wie Jack

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