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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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pro Woche spielte sie in der Central Bar, einem Pub am
unteren Ende des Leith Walk, auf der Flöte irische Musik. »Wenn du hier bist,
zeige ich dir die Central«, sagte sie.
    »Ich will alles über dich wissen«, sagte Jack.
    »Das denkst du vielleicht nur«, ermahnte ihn seine Schwester.
    Jack parkte den Audi am Bürgersteig in der Montana Avenue. Er
wartete darauf, daß Elizabeth, Dr. Garcías Sprechstundenhilfe, kam und die
Praxis aufschloß. Sie würde Jacks Ich-habe-eine-Schwester -Nachricht
als erste hören. Er würde ihr Zeit geben, sämtliche Nachrichten auf dem
Anrufbeantworter abzuhören, und sie dann fragen, ob er den ersten Termin bei
Dr. García bekommen könne.
    Er wartete nicht mehr im Wartezimmer auf seine [1004]  Therapiesitzungen
bei Dr. García, sondern in seinem Wagen. Wenn er an der Reihe war, rief ihn
Elizabeth auf seinem Handy an. Dann steckte er Geld in die Parkuhr und ging
hinein. Seine Anwesenheit im Wartezimmer führte bei den jungen Müttern –
gelegentlich auch bei ihren Freundinnen oder Kindermädchen – zu
»Borderline-Hysterie«, wie Dr. García gesagt hatte.
    Jack hörte gerade eine Emmylou-Harris- CD und klopfte mit den Fingern den Takt von »Tougher than the Rest« auf dem
Lenkrad, als auf dem Bürgersteig Elizabeth in Sicht kam. Sie schwenkte ihren
Schlüsselbund in seine Richtung, aber angesichts von Emmylous Stimmvolumen
konnte er die Schlüssel nicht klirren hören.
    »Ihnen zeig ich gleich tougher than the rest «,
sagte Elizabeth, als sie ihn in die Praxis einließ. Sie war eine hochgewachsene
Mittfünfzigerin mit einem Adlerprofil, die ihr stahlgraues Haar stets zu einem
Pferdeschwanz gebunden trug. In ihren angespannten Nackenmuskeln lag etwas von
Mrs. McQuats Strenge.
    »Ich habe eine Nachricht auf Dr. Garcías Anrufbeantworter
hinterlassen«, sagte Jack.
    »Die habe ich gehört. Schöne Nachricht. Ich höre die Nachrichten
immer vom Auto aus ab«, erklärte sie. »Und jetzt wollen Sie vermutlich den
ersten Termin.«
    »Das wäre nett, Elizabeth.«
    Er saß in Dr. Garcías Sprechzimmer, nicht in ihrem Wartezimmer,
während Elizabeth eine Kanne Kaffee machte. Er war noch nie allein im
Sprechzimmer gewesen und nahm sich die Zeit, die Familienfotos eingehender zu
betrachten. Dabei fiel ihm auf, daß Dr. García auf den Fotos viel jünger war,
als er zunächst angenommen hatte. Wenn die Kinder auf den Bildern ihre waren,
dann waren sie mittlerweile erwachsen und hatten wahrscheinlich selbst Kinder.
    »Wie alt ist Dr. García?« fragte er Elizabeth, als sie ihm eine
Tasse Kaffee brachte.
    [1005]  »Einundsechzig«, antwortete Elizabeth.
    Jack war verblüfft. Dr. García sah viel jünger aus. »Und der Mann
auf den Bildern?« fragte er Elizabeth. »Ist das ihr Mann oder ihr Vater?«
    »Das war ihr Mann«, sagte Elizabeth. »Er ist jetzt schon seit fast
zwanzig Jahren tot. Er ist gestorben, bevor ich sie kennengelernt habe.«
    Vielleicht war das die Erklärung für die gleichsam geisterhafte
Anwesenheit des älter wirkenden Mannes auf den Bildern: Er war ein Geist, der
die Familie heimsuchte, kein Beteiligter mehr.
    »Und sie hat nicht wieder geheiratet?« fragte Jack.
    »Nein. Sie wohnt bei einer ihrer Töchter und deren Familie. Sie hat
so viele Enkelkinder, daß sie sie gar nicht mehr zählen kann.«
    Wie sich herausstellte, war Elizabeth Patientin von Dr. García
gewesen, ehe sie ihre Sprechstundenhilfe wurde. Elizabeth war geschieden, eine
mittlerweile trockene Alkoholikerin, die das Sorgerecht für ihr einziges Kind,
einen kleinen Jungen, verloren hatte. Als sie mit dem Trinken aufgehört und
eine Arbeit bekommen hatte, hatte der Junge, mittlerweile ein Teenager,
beschlossen, bei ihr zu wohnen. Elizabeth war der Überzeugung, daß Dr. García
ihr das Leben gerettet hatte.
    Allein saß Jack mit seinem Kaffee in Dr. Garcías Sprechzimmer. In
Gesellschaft ihrer in der Zeit erstarrten Familie kam er sich unwichtig vor. Es
war sehr aufschlußreich für ihn, daß seine Therapeutin beschlossen hatte, ihre
Praxis mit Fotos von sich selbst und ihren Kindern zu schmücken, Fotos aus der
Zeit vor dem Tod ihres Mannes, als müßte sie sich daran erinnern, daß
Selbstmitleid nicht erlaubt war. (Selbstmitleid war kein Teil des
Heilungsprozesses – das jedenfalls sagte Dr. García ihren Patienten.)
    Lebe damit, sagten die Fotos. Vergiß die Vergangenheit nicht, aber verzeihe ihr.
    [1006]  Im Haus ihrer Tochter, wo Dr. García als Großmutter lebte – eine
ziemlich

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