Bis ich dich finde
Chefarzt
studiert. Er hatte versucht, sie sich vor der ersten Begegnung vorzustellen, so
gut er konnte. Aber er trat in diesem Stück nicht auf –, das taten nur sie. Sie
waren für seinen Vater zuständig. Jacks Job war es, von ihnen zu lernen.
Der Leiter der Klinik, Professor Lionel Ritter, war Deutscher. Er
sprach gut Englisch, hatte Jack von Heather erfahren, und gab sich solche Mühe,
diplomatisch zu sein, daß man ihm seinen leichten Hang zur Langatmigkeit gern
verzieh. Er war stets ordentlich, aber lässig gekleidet, ein gepflegter, fit
aussehender Mann, der auf die mittlerweile 136 Jahre währende Geschichte des
Sanatoriums als private psychiatrische Klinik stolz war. (Jack hatte sich
Professor Ritter ein bißchen wie David Niven in Tenniskleidung ausgemalt.)
Der stellvertretende Leiter der Klinik, Dr. Klaus Horvath, war
Österreicher. Heather hatte ihn als gutaussehenden, kernig wirkenden Burschen
geschildert – ein Sportler, in erster Linie Skifahrer. William unterhielt sich
mit Dr. Horvath gern über das Skifahren; der Arzt war vom psychologischen
Nutzen des Joggingprogramms der Klinik, an dem William Burns mit seinen
vierundsechzig Jahren begeistert teilnahm, fest überzeugt. Jack hatte gewisse
Schwierigkeiten, sich seinen Vater als vollständig tätowierten Jogger
vorzustellen, und bei Dr. Horvath mußte er immerzu an Arnold Schwarzeneggers
Akzent denken – vielleicht in Verbindung mit Arnolds fröhlichem, optimistischem
Gemüt, das am deutlichsten in jener Komödie zum Tragen kommt, in der der
ehemalige Bodybuilder Danny DeVitos Zwillingsbruder spielt.
Der zweite Deutsche, Dr. Manfred Berger, war Neurologe und Psychiater
und leitete die gerontopsychiatrische Abteilung der Klinik. Laut Jacks
Schwester war ihr Vater ein jugendlich wirkender Vierundsechzigjähriger und
noch kein Kandidat für Dr. Bergers Spezialdisziplin. In Heathers Augen war [1045] Dr. Berger ein »Faktenmensch« – auf Spekulationen ließ er sich nicht ein.
Bei seiner Ankunft in Kilchberg hatte William Burns
Stimmungsschwankungen gezeigt, wie sie bei bipolaren Störungen auftreten.
(Euphorische Momente, die in Zorn umschlugen; Hochstimmungen, die, offenbar
ohne jedes Schlafbedürfnis, eine volle Woche anhielten, um dann in
stuporartiger Depression zu enden.) Wie sich herausstellte, litt William nicht
an einer bipolaren Störung. Doch bevor diese Diagnose gestellt werden konnte,
hatte Dr. Berger auf einer neurologischen Untersuchung bestanden.
Dr. Berger, hatte Jack von Heather erfahren, war jemand, der gern
bestimmte Sachverhalte ausschloß. Hatte William einen Gehirntumor? Dr. Berger
bezweifelte es, aber diese fatale Möglichkeit mußte ausgeschlossen werden. Eine
sogenannte Temporallappen-Epilepsie konnte sich ebenfalls in
Stimmungsschwankungen äußern, die denen Williams nicht unähnlich waren,
insbesondere seinen Höhenflügen und seinen lautstarken Zornesanfällen. Aber
William litt weder an einer Temporallappen-Epilepsie noch an einer bipolaren
Störung.
Dr. Berger hatte nichts Mutloses an sich: Es war, als rechnete er
damit, widerlegt zu werden, aber er ließ sich durch Fehlschläge keineswegs
niederdrücken.
Jack verkniff sich die naheliegende Schlußfolgerung, daß die interessantesten
psychischen Leiden weder leicht zu diagnostizieren noch leicht zu kurieren
waren. Wer hätte beim Anblick der Ganzkörpertätowierungen seines Vaters nicht
vermutet, daß William Burns an einer Zwangsneurose litt? Und daß es ihm
körperlich weh tat, Orgel zu spielen, und ihn zugleich völlig verrückt machte,
nicht zu spielen – wer wäre da nicht deprimiert und Stimmungsschwankungen
unterworfen?
Doch Dr. Berger war ein »Faktenmensch«: Seine Rolle bestand darin,
Sachverhalte auszuschließen, nicht einzukreisen. Er war [1046] ein wichtiges
Mitglied des Teams, hatte Jacks Schwester gesagt – wenn auch nicht unbedingt
der sympathischste unter den Ärzten. Obwohl Deutscher, hatte er die Schweizer
Sitte des ausgiebigen Händeschüttelns angenommen, der er laut Heather mit
»sportlichem Einsatz« frönte.
Dieser Mensch verwirrte Jack schon im voraus. Er hatte jemanden vor
Augen, der vage Gene Hackman oder Tommy Lee Jones ähnelte. (Wie sich
herausstellte, lag er damit völlig daneben.)
Die übrigen Teammitglieder waren Frauen. In Heathers Augen waren sie
beeindruckender. Dr. Regula Huber zum Beispiel – sie war Leiterin der Inneren
Abteilung, eine Schweizerin Mitte Vierzig, blond und unermüdlich. Im
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