Bis ich dich finde
Sanatorium
Kilchberg gab es viele ältere Patienten; eine Internistin hatte dort reichlich
zu tun. Die meisten älteren Patienten waren auf Betreiben von Angehörigen
eingewiesen worden und durften die Klinik nicht verlassen.
Heather hatte Jack erzählt, sie habe viele Gespräche mit Dr. Ritter
und dem Ärzteteam geführt, das sich um William kümmerte. Jedesmal sei Dr.
Hubers Piepser losgegangen, und sie sei zu einem Notfall gerufen worden. Im
Falle von William Burns, der zwar auf Betreiben seiner Tochter in die
psychiatrische Klinik eingewiesen worden, aber aus freien Stücken und
glücklicherweise ohne Protest dageblieben war, hatte Dr. Huber genau wie Dr.
Berger zunächst einiges ausschließen wollen.
Litt William Burns an einer Unterfunktion der Schilddrüse? (Das
konnte dazu führen, daß man fror.) Nein, daran litt er nicht. Litt er am
Curshman-Steinert-Syndrom? Gott sei Dank auch nicht! Und warum war William so
dünn? Weil er nicht trank und Völlerei für ihn eine Sünde war; ihr Vater hielt
streng Diät, als wäre er Fotomodell, Jockey oder Schauspieler. (Wie der Vater,
so der Sohn!)
Es war Dr. Huber, die Williams Arthrose behandelte oder zu [1047] behandeln versuchte. Sie hatte kürzlich eine neue Gruppe nichtsteroidaler
entzündungshemmender Medikamente ausprobiert, die angeblich magenfreundlicher
waren als die älteren Entzündungshemmer, aber William bekam auch davon solche
Magenbeschwerden, daß Dr. Huber wieder zu einem konventionellen Mittel griff,
das sie lokal anwandte.
Und es war Dr. Huber, welche die Ansicht vertrat, daß manche
Placebos tatsächlich wirkten – sofern der Patient an eine Wirkung glaubte. Sie
erhob keine Einwände gegen Williams Vorliebe für heißes Wachs und Eiswasser
oder die Einnahme von Glukosamin mit Haifischknorpelextrakt. William Burns trug
zudem Kupferarmbänder, außer wenn er Klavier oder Orgel spielte.
Heather mochte Dr. Huber, die sie als Pragmatikerin bezeichnete.
(Jack dachte unerklärlicherweise an Frances McDormand, eine seiner
Lieblingsschauspielerinnen.)
Dr. Ruth von Rohr, auch sie Deutsche, hatte einen merkwürdig
undefinierten Zuständigkeitsbereich. Sie war eine Art Oberärztin – welcher
Abteilung allerdings war nicht recht klar oder wurde vielleicht absichtlich
nicht präzisiert. Sie war eine hochgewachsene, umwerfend aussehende Frau, deren
wilde, goldbraune Mähne von einer silbernen Strähne durchzogen war, die laut
Heather ganz natürlich aussah, es aber nicht sein konnte. Dr. von Rohrs
Auftreten hatte etwas majestätisch Oberärztliches. Gewöhnlich ließ sie zuerst
andere zu Wort kommen, obwohl ihre Ungeduld deutlich spürbar und auch
kalkuliert war. Sie wußte, wann sie seufzen mußte, und ihre langen Finger waren
von beträchtlicher Geschicklichkeit – oft wirbelte sie damit einen Bleistift
herum, den sie fast nie fallen ließ. Wenn sie – normalerweise als letzte und
oft in herablassendem Ton – das Wort ergriff, wandte sie ihren Zuhörern das
kantige Gesicht mit dem energischen Kinn im Profil zu, als sollte es einer
Münze aufgeprägt werden.
»Andererseits«, begann sie gern, als wäre sie Leiterin der [1048] Abteilung für Zweifel – als stünde die silberne Strähne in ihrem Haar für
jene Grauzone der Unsicherheit in jeder Argumentation. Dr. von Rohrs Aufgabe
war es, dafür zu sorgen, daß die anderen sich weniger selbstsicher fühlten. Sie
öffnete gern die Tür zu jenen Sachverhalten, die niemals ausgeschlossen werden konnten.
Im Sanatorium Kilchberg galt William Burns für jedermann als
Musterpatient. Er fühlte sich offenbar wohl: Schließlich hatte er kein einziges
Mal versucht wegzulaufen. Er beklagte sich selten über seine Unterbringung oder
die Behandlung. Gewiß, manchmal gab er seinen Dämonen nach. Er hatte seine
Wutanfälle und seine irrationalen Momente, die in Kilchberg allerdings viel
seltener auftraten als zuvor in der Außenwelt. Jacks Schwester hatte behauptet,
ihr Vater sei dort, wo er hingehöre: Bemerkenswerterweise schien William das zu
akzeptieren. (Hatte er sich diesen Gedanken nicht regelrecht zu eigen gemacht?,
hatte Dr. Horvath begeistert gefragt.)
Doch es fiel in Dr. von Rohrs Zuständigkeit, die bislang ungestellte
Frage aufzuwerfen. »Tritt nicht bei einigen unserer Patienten Hospitalismus als
Sekundärkrankheit auf?« fragte sie etwa, wenn gerade alles in bester Ordnung zu
sein schien. »Wenn wir bei William nun zu erfolgreich
sind? Wenn er sich hier wohlfühlt, haben wir ihn dann
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