Bis ich dich finde
nicht in gewissem Sinne
von uns und diesem Haus abhängig gemacht? Ich frage nur«, sagte sie dann gern,
sobald das Samenkorn des Zweifels gesät war.
Es war Dr. von Rohr, die nicht aufhörte zu fragen, warum William so
oft fror. »Aber wodurch wird das ausgelöst?« wollte sie häufig wissen. (Im
Sanatorium Kilchberg, hatte Jack von seiner Schwester erfahren, war das Wort auslösen ungeheuer populär.)
Es war Dr. von Rohr, die zu bedenken gab, daß William Burns eine
narzißtische Persönlichkeit, womöglich sogar eine narzißtische
Persönlichkeitsstörung haben könnte. Er wusch sich täglich seine grauweiße
Hippiemähne. Er war sehr eigen, was den [1049] Haarfestiger und das Gel anging, die
er benutzte. (Er hatte einen Tobsuchtsanfall bekommen, war nackt und schreiend
herumgerannt, weil die Sicherung seines Föns durchgeschmort war!) Dann waren da
seine akribisch ausgeführten Tätowierungen, ganz zu schweigen davon, wie er auf
sie achtgab. Meistens verbarg er sie. Er trug selbst im Sommer langärmlige, am
Hals zugeknöpfte Hemden, lange Hosen und Schuhe mit Socken. (Doch wenn er
wollte, daß man seine Tätowierungen sah, zeigte er sie alle.)
Bei Schizophrenen war es durchaus nicht ungewöhnlich, daß sie lange
Hosen und langärmlige Hemden trugen, da sie sich sehr ungeschützt fühlten. Doch
bei Jacks und Heathers Vater wurde keine Schizophrenie diagnostiziert. Das
Problem, das Dr. von Rohr aufgeworfen hatte, war seine Pingeligkeit, seine
Eitelkeit – zum Beispiel die Art und Weise, wie er auf sein Gewicht achtete.
»Ist William nicht ein unmöglicher Perfektionist?« sagte Dr. von Rohr etwa.
»Ich frage nur.«
Die Arthrose war der Grund, warum William Burns nicht mehr
berufsmäßig Orgel spielen konnte – daher sein früher Ruhestand, der seinen
psychischen Verfall beschleunigt hatte. Aber er hätte weiterhin unterrichten
können – sogar Klavier- und Orgeltechnik, wenn auch in begrenztem Maße, hatte
Heather gesagt. Auf jeden Fall hätte er weiterhin Musiktheorie und
Musikgeschichte lehren können; dennoch hatte er sich – vielleicht
unnötigerweise – vollständig zur Ruhe gesetzt.
»Das Unvermögen, bisherigen Maßstäben und Erwartungen gerecht zu
werden, das auch zu einem vorzeitigen Rückzug aus dem Berufsleben führen kann,
ist ein typisches Merkmal einer narzißtischen Persönlichkeit, nicht wahr?«
hatte Dr. von Rohr zu dem Ärzteteam gesagt. (Das »Ich frage nur« war stets
impliziert, auch wenn es nicht immer ausgesprochen wurde.)
»Das ist vielleicht eine«, hatte Jacks Schwester gesagt. »Die
typische Oberärztin.«
[1050] Beim Versuch, sich Dr. Ruth von Rohr vorzustellen, dachte Jack an
Dr. García, die eine gute Zuhörerin war und ebenfalls viele bislang ungestellte
Fragen aufwarf. Und die typische Oberärztin war sie zweifellos auch!
Das sechste Mitglied des Teams schließlich war eine attraktive junge
Frau, respekteinflößend und distanziert – Dr. Anna-Elisabeth Krauer-Poppe. Sie
trug stets einen langen, gestärkten, schneeweißen Laborkittel – aber offenbar
nicht als Insignie ihres Berufsstandes, sondern um ihre modischen Kleider zu
schützen. (Sie war Schweizerin, doch ihre Kleider waren ausländischer Herkunft,
hatte Heather behauptet.)
Passend zur symmetrischen Ausgewogenheit ihrer Doppelnamen war Dr.
Anna-Elisabeth Krauer-Poppe so perfekt durchgestylt wie ein Vogue -Model
in Paris oder Mailand. Sie wirkte zu schick für die Schweiz, obwohl sie in
Zürich geboren war und sich in der Stadt ebenso gründlich auskannte wie auf
ihrem Fachgebiet. Sie war Leiterin der Pharmakologie im Sanatorium, wo man
allgemein der Ansicht war, daß sie bei Medikationen ebensogut Bescheid wußte
wie in Modefragen.
Daß sich William nicht mit den neuen (sogenannten magenfreundlichen)
nichtsteroidalen Entzündungshemmern behandeln ließ und nur lokal angewandte
Medikamente vertrug, hatte sie frustriert. Seine Selbstbehandlung mit heißem
Wachs ließ sie nicht zuletzt deshalb schaudern, weil er sich gründlich die Kleidung
verdreckte, wenn er das getrocknete Wachs abpulte. Und beim Anblick seiner in
Eiswasser getauchten Hände verspürte Dr. Krauer-Poppe vermutlich den Wunsch,
ihr gesamtes Ensemble zu wechseln. (Was die Kupferarmbänder anging, so ertrug
sie nicht einmal ihren Anblick, und das Glukosamin, besonders den
Haifischknorpelextrakt, tat sie als »Volksmedizin« ab.)
Doch gegen William Burns’ Zwangsneurose hatte Dr. Krauer-Poppe ein
Antidepressivum verordnet, das eine
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