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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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das vollgeschriebene Notizbuch einem
heiligen Text gleich. Für sie ist es undenkbar, auch nur eine einzige
Tätowierung, und sei es nur teilweise, übertätowieren zu lassen. Williams
Tätowierungen waren größtenteils von echten Könnern angefertigt worden, doch
selbst seine weniger gelungenen Tätowierungen hatten Musik zum Gegenstand, an
der ihm etwas lag. Sowohl die Musik als auch die Texte hatten nicht nur seine
Haut für sein Leben gezeichnet.
    Heather hatte Jack erzählt, ihr Vater habe zwischen seinen
Tätowierungen keine freie Stelle mehr. Die Tokkaten und Kirchenlieder, die
Präludien und Fugen überlappten einander wie lose Notenblätter auf einem
unaufgeräumten Schreibtisch: jeder Zentimeter des Schreibtisches war bedeckt.
    [1042]  Auf Williams Rücken, sagte Heather, wo er es nur unter
beträchtlichen Verrenkungen sehen konnte, befand sich ein Segelschiff – eine Heckansicht,
von weitem gesehen. Das Schiff entfernte sich vom Ufer und teilte die
Musikwogen, die es zu verschlingen drohten. Auch auf den vollen Segeln prangte
Musik, aber das Schiff war so weit vom Ufer entfernt, daß man die Noten nicht
lesen konnte. Das war der Herbert Hoffmann ihres Vaters, doch laut Heather ging
er »fast unter vor einem riesigen Horizont von Musik« – ein »Seemannsgrab« oder
»Letzter Hafen«, aber kleiner, als Jack sich vorgestellt hatte, und vollständig
von Klang umgeben.
    Walthers »Wachet auf, ruft uns die Stimme« verdeckte teilweise das
Fragment aus dem Lieblingsosterlied seines Vaters, »Christ der Herr ist uns
erstanden« – und zwar die beiden obersten Zeilen, wo sich das Halleluja des
Refrains hätte befinden müssen. An anderer Stelle wurde Bachs geistliches Stück
(»Jesu meine Freude») von Balbastres »Joseph est bien marié« überlappt: Das
Wort Largo über der ersten Zeile des Bach-Stückes war
halb verdeckt.
    Sowohl der bekannte Text als auch die Noten des Chors »For Unto Us a
Child is Born« aus Händels Messias stießen sich mit Widors Tokkata aus der
Fünften Symphonie op. 42, wobei sogar das op. 42 Teil
der Tätowierung war, die außerdem den vollständigen Namen des Komponisten
umfaßte. Es überraschte Jack zu erfahren, daß die Namen der Komponisten in den
Tätowierungen stets vollständig ausgeschrieben waren – also nicht Bach und Widor, sondern Johann Sebastian Bach und Charles-Marie
Widor – und außerdem nicht kursiv, sondern in einer Schreibschrift, die
(weil sie altersbedingt immer mehr verblaßte) zunehmend schwerer zu lesen war.
    Altersbedingtes Verblassen hatte auch bei einigen anderen
Tätowierungen Williams seinen Tribut gefordert, darunter John Stanleys Trumpet
Voluntary, sein Trompetenstück in D, das im [1043]  Bereich der rechten Lunge
Williams Brust zierte. Die untere oder Pedalstimme war fast ebenso vollständig
verblaßt wie das Wort Vivo über der ersten Zeile von
Alains »Litanies«, nicht aber das Alain-Zitat auf Williams Gesäß. Das
Französische war in Kursivschrift auf seine linke Hinterbacke tätowiert, die
englische Übersetzung auf die rechte. Sie würden auf seiner Haut langsamer
dahinwelken als die Jugend selbst.
     
    Die Vernunft ist an ihre Grenze gestoßen.
Nur der Glaube wächst immerdar.
    Auch bei William Burns war die Vernunft an ihre Grenze gestoßen.
Das war es offensichtlich, was Jacks Schwester ihm hatte mitteilen wollen.
Jeder Quadratzentimeter von Williams Körper war eine Aussage, jede seiner
Tätowierungen existierte aus einem bestimmten Grund. Doch jetzt war kein Platz
mehr, außer für Glauben.
    »Du wirst verstehen, was ich meine, wenn du ihn nackt siehst, und
das wirst du«, hatte Heather gesagt.
    »So?«
    Seine Schwester hatte sich dazu nicht näher äußern wollen. Zu
behaupten, daß Jack besorgt war, als sein Flugzeug in Zürich landete, wäre eine
Untertreibung gewesen.
    Die Schweizer, hatte Heather ihn vorgewarnt, legten Wert darauf,
sich die Namen von Leuten zu merken, und erwarteten, daß man sich ihren
ebenfalls merkte. Als Schauspieler vertraute Jack auf sein Gedächtnis – doch
ansonsten wurden seine Fähigkeiten, und zwar nicht nur die schauspielerischen,
von der bevorstehenden Aufgabe auf eine ernsthafte Probe gestellt. Die Riege
von Ärzten, die er im Sanatorium Kilchberg kennenlernen würde, trug
einschüchternde Namen, und ihre jeweiligen Rollen waren (wie die Tätowierungen
seines Vaters) miteinander verknüpft und überlappten sich zuweilen.
    [1044]  Mit Heathers Hilfe hatte Jack die fünf Ärzte und den

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