Bis ich dich finde
vollkommen
teilnahmslos wäre.
Dr. Horvath, der kernige Österreicher und stellvertretende Leiter
der Klinik, der oft mit William joggte, hatte seinem Patienten »einen
besonderen Besucher« angekündigt. Da es für den nächsten Besuch seiner Tochter
noch zu früh war, rechnete William wahrscheinlich mit jemandem aus der Welt der
Musik – einem auswärtigen Musiker, einem Organistenkollegen, der in einem
Konzert auftrat oder in einer Kirche in Zürich spielte. (Solche namhaften
Besucher kamen gelegentlich nach Kilchberg, um William Burns ihre Reverenz zu
erweisen.)
Jack hatte sich vom Portier des Storchen ein Restaurant empfehlen
lassen, das vom Hotel aus zu Fuß zu erreichen war. Man würde William erlauben,
mit seinem Sohn essen zu gehen, allerdings nur in Begleitung von Professor
Ritter oder einem (oder mehreren) der anderen Klinikärzte.
»Am besten reservierst du für drei oder vier Leute«, hatte Heather
zu Jack gesagt. »Sie wollen bestimmt nicht, daß du das Sanatorium allein mit
ihm verläßt. Und glaub mir, Jack, du willst das auch nicht, jedenfalls nicht
beim ersten Mal.«
Der Portier, ein lakonischer Bursche mit einer hufförmigen Narbe auf
der Stirn – wahrscheinlich war er bei einem Autounfall mit dem Kopf gegen die
Windschutzscheibe geschlagen –, hatte in der Kronenhalle einen Tisch für vier
Personen reserviert. [1054] Es sei ein ausgezeichnetes Restaurant und ein hübscher
Spaziergang dorthin, hatte er Jack versichert. »Und weil Sie Jack Burns sind,
habe ich es tatsächlich geschafft, Ihnen ganz kurzfristig einen Tisch zu
besorgen.«
Jack verließ das Hotel und sah den Schwänen und Enten auf der Limmat
zu. Er schaute auf seiner Armbanduhr die Uhrzeit nach und verglich sie mit den
Turmuhren der beiden imposantesten Kirchen, die er vom Weinplatz aus sehen
konnte. Dabei sah er auch einen Taxistand. Die Fahrt vom Storchen nach Kilchberg
dauerte nur zehn bis fünfzehn Minuten, und er wollte weder zu früh noch zu spät
kommen.
Daß er seiner Mutter so vieles vorgeworfen hatte, bereitete ihm
Schuldgefühle. Wäre sie noch am Leben gewesen und er hätte vor seiner ersten
Begegnung mit ihr gestanden, wäre er bestimmt genauso nervös und aufgeregt
gewesen wie jetzt angesichts der Begegnung mit seinem Vater. Mit einemmal
erschien es ihm lächerlich, daß er ihr nicht verzeihen konnte. Sie fehlte ihm
sogar. Er wünschte, er könnte sie anrufen, doch was hätte er gesagt?
Es war Miss Wurtz, die darauf wartete, von ihm zu hören, es war
Caroline, die er hätte anrufen sollen. Aber er konnte nur daran denken, daß er
gern mit seiner Mutter geredet hätte.
»Hi, Mom, ich bin’s«, wollte er ihr sagen. »Ich mache das nicht, um
dir weh zu tun, aber ich bin unterwegs zu meinem Dad, und das nach all den
Jahren! Kannst du mir einen Rat geben?«
Jack fuhr mit dem Taxi am Ufer des Zürichsees entlang zur Stadt
hinaus, eine schöne Fahrt, bei der es die ganze Zeit dicht am See entlangging.
Am Ufer standen die Veranstaltungszelte eines Theaterfestivals. Es war sonnig
und warm, doch die Luft war trocken – Gebirgsluft, nicht annähernd so feucht,
wie sie in Edinburgh gewesen war. Immer wieder boten sich jenseits des [1055] Sees
kurze, eindrucksvolle Ausblicke auf die Alpen. Alles war sauber, fast
spiegelblank. (Sogar das Taxi.)
Kilchberg war eine Gemeinde von etwa siebentausend Einwohnern. Wegen
der Segelboote auf dem See und der vielfach von Gärten umgebenen, stattlichen
Häuser ähnelte das Dorf einem Urlaubsort. Der Taxifahrer erzählte Jack, das
rechte Seeufer sei etwas wohlhabender. »Europäer schauen lieber nach Westen«,
sagte er. Kilchberg, am linken Seeufer, schaute nach Osten.
Doch Jack fand Kilchberg bezaubernd. Es gab sogar einen kleinen
Winzerbetrieb – jedenfalls sah es wie ein bewirtschafteter Bauernhof aus –, und
das Sanatorium lag hoch über dem See auf einem Hügel, von dem sich nach Norden
hin ein spektakulärer Blick auf Zürich bot. Nach Süden hin lagen die Alpen.
»Die meisten Patienten nehmen den Bus vom Bürkliplatz – das
Sanatorium hat eine eigene Haltestelle«, sagte der Taxifahrer. »Ich meine die
Patienten, die nicht in der geschlossenen Abteilung untergebracht sind«, fügte
er hinzu – und bedachte Jack im Rückspiegel mit einem wachsamen Blick, als wäre
er sich sicher, daß Jack geflüchtet war. »Sie können sich ja überlegen, das
nächste Mal den Bus zu nehmen – es ist der mit der Nummer eins-sechs-eins, wenn Sie sich das merken können.«
Der
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