Bis ich dich finde
einen weißen Kopf und keinen Hals.«
»Stopp! Warte mal«, sagte Jack plötzlich und deutete auf die rechte
Körperseite seines Vaters. »Was ist denn das?«
Die Tätowierung bestand weder aus Text noch aus Noten, sondern
ähnelte eher einer klaffenden Wunde in Williams Seite. Schlimmer noch, die
Ränder dieser »Wunde« waren von einem tiefen Rot, das nach Blut aussah. (Was
das Blut anging, hätte Jack es wissen müssen, aber er war damals erst vier
gewesen.)
»Das ist die Stelle, wo Unser Herr verwundet wurde«, sagte Jacks
Vater zu ihm. »Sie haben ihm Nägel durch die Hände getrieben«, sagte er und
führte wie zum Gebet die Hände zusammen, »und ebenso durch die Füße. Und hier«,
sagte William und berührte die Tätowierung rechts auf seinem Brustkorb, »hat
ihm einer der Soldaten eine Lanze in den Leib gestoßen.«
[1114] »Wer hat die Tätowierung gemacht?« fragte Jack seinen Vater.
Irgendein Picker, erwartete er als Antwort, aber er hätte es besser wissen
müssen.
»Es gab einmal eine Zeit, Jack, da kam jeder religiöse Mensch in
Amsterdam zumindest in Versuchung, sich von einem Mann namens Jacob Bril
tätowieren zu lassen. Vielleicht warst du noch zu jung, um dich an ihn zu
erinnern.«
»Doch, ich erinnere mich an Bril«, sagte Jack und berührte den
blutigen Schnitt in Williams Seite – dann zog er seinem Vater das Hemd über die
Wunde.
Die Kronenhalle war ein großartiges Restaurant. Jack war so dumm
gewesen, nur einen Salat zu bestellen, aß jedoch zwei Drittel des Wiener
Schnitzels seines Vaters. William war ein äußerst wählerischer Esser.
»Wenigstens Jack hat Appetit mitgebracht, William«, schalt ihn Dr.
Krauer-Poppe, aber sowohl William als auch Jack waren in ziemlich beschwingter
Stimmung.
Sie hatten das Wort Fleisch umschifft,
das, so hatte sich herausgestellt, im Gegensatz zu Haut nicht zu der Kategorie von Auslösern gehörte, bei denen es kein Halten mehr
gab. Zwar hatte Jack den Schmerz eines dritten Mannes im Gesicht seines Vaters
gesehen, aber er wußte, sie waren der Männertoilette entkommen, ohne sich dem
Schlimmsten stellen zu müssen, was Spiegel bei seinem Vater bewirken konnten.
Wenn William nackt vor einem Spiegel stehe, sei es anders, hatte Dr. von Rohr
gesagt. Vermutlich gab es dann die volle Ladung, von der Dr. Horvath gesprochen
hatte. Jack würde sie eines Tages zu sehen bekommen, und dieser Tag war nicht
fern. Doch an diesem Abend in der Kronenhalle war er ganz zufrieden damit, daß
es noch nicht soweit war.
Sie unterhielten sich kurz über die jüngeren Schwestern im
Sanatorium Kilchberg, die praktisch Schlange standen, oder sich [1115] abwechselten, um seinen Vater jeden Morgen zu rasieren. William flirtete
offenbar für sein Leben gern.
»Du rasierst dich nicht selbst?« fragte ihn Jack.
»Probier das mal, ohne Spiegel«, sagte sein Vater. »Versuch es ruhig
auch mal mit den jüngeren Schwestern, Jack.«
»Wenn Sie sich nicht benehmen, William, werde ich künftig Waltraut
damit beauftragen, Sie zu rasieren«, sagte Dr. von Rohr.
»Hauptsache, Sie beauftragen nicht Hugo damit, Ruth«, sagte Jacks
Vater.
So gelang es William, das Gespräch wieder auf Hugo und das Thema Sex
mit Prostituierten zu bringen. Dr. von Rohr war auf ihre oberärztliche Weise so
klug, es kommen zu sehen, konnte es aber nicht verhindern.
»Es ist hauptsächlich Hugo, gegen den diese reizenden Damen etwas
haben, Jack«, begann sein Vater, »nicht die Prostituierten.« (Seufzen von Dr.
von Rohr; Hände-vors-Gesicht-Schlagen bei Dr. Krauer-Poppe.)
»Du hast Prostituierte gesagt – Plural. Gehst du denn zu mehr als
einer?« fragte Jack seinen Vater.
»Nicht gleichzeitig«, sagte William mit seinem boshaften kleinen
Lächeln. (Gabel-Herumwirbeln, Löffel-Drehen, Messer-Klopfen von Dr. von Rohrs
Teil des Tisches – und Dr. Krauer-Poppe hatte wieder etwas im Auge.)
»Ich möchte nur einfach wissen, Pop, ob du immer zu den selben zwei
oder drei Frauen gehst – nicht gleichzeitig, meine ich –, oder ob es jedesmal
eine andere ist.«
»Ich habe meine Lieblinge«, sagte sein Vater. »Es gibt drei oder
vier Ladys, zu denen ich immer wieder gehe.«
»Sie sind auf Ihre Weise treu, möchten Sie das damit sagen,
William?« fragte Dr. Krauer-Poppe. »Gibt es nicht auch ein Lied, das so heißt?«
(Sie hatte etwas mehr Rotwein getrunken als Dr. von Rohr.) »Oder habe ich da
etwas falsch verstanden?«
»Nein, das stimmt schon, Anna-Elisabeth«, sagte Dr. von Rohr.
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