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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Medikamente
gedacht – noch nicht.« Sie klappte eine kleine Puderdose auf – diese enthielt
zweifellos einen winzigen Spiegel, den Jacks Vater allerdings nicht sehen
konnte – und betupfte sich den Augenwinkel mit einem Papiertaschentuch.
    »Vielleicht könnten wir über damals reden, als wir alle um zwei Uhr
morgens aufgestanden sind und uns angesehen haben, wie Jack den Oscar bekommen
hat!« sagte Dr. von Rohr und [1109]  nahm Williams behandschuhte Hand. Er sah ihre
Hand an, als wäre sie aussätzig.
    »Sie meinen Emmas Oscar, Ruth?« fragte William sie. »Dieses Drehbuch
trägt eindeutig Emmas Handschrift oder nicht, Jack?«
    Jack gab keine Antwort; er sah bloß zu, wie Dr. von Rohr die Hand
seines Vaters losließ. »Wenn das Essen kommt, William, helfe ich Ihnen, die
Handschuhe auszuziehen«, sagte sie. »Ohne sie können Sie besser essen.«
    »Ich muß bald pinkeln«, verkündete Jacks Vater.
    »Ich gehe mit ihm«, sagte Jack zu den beiden Ärztinnen.
    »Ich denke, ich sollte mitkommen«, sagte Dr. von Rohr.
    »Nein«, sagte William zu ihr. »Wir sind Jungs. Wir gehen zur
Jungentoilette.«
    »Daß Sie sich ja benehmen, William«, warnte ihn Dr. Krauer-Poppe.
Jacks Vater streckte ihr im Aufstehen die Zunge heraus.
    »Wenn Sie in ein paar Minuten nicht wieder da sind, komme ich
nachsehen«, sagte Dr. von Rohr und berührte Jacks Hand.
    »Jack, Ihr Vater hat geweint, als Sie den Oscar bekommen haben,
geweint und gejubelt«, sagte Dr. Krauer-Poppe. »Er war so stolz auf Sie – er
ist es immer noch.«
    »Ich habe lediglich gemeint, daß Emma ihm geholfen haben muß«, sagte
William. Er war empört.
    »Sie haben geweint und gejubelt, William, wie wir alle«, erwiderte
Dr. von Rohr.
    Als Jack mit seinem Vater zur Männertoilette ging, machte er sich
klar, daß sein Vater, wenn sie sich die Oscarverleihung im Jahre 2000 im
Fernsehen angesehen hatten, schon seit über drei Jahren im Sanatorium Kilchberg
war. Niemand, nicht einmal Heather, hatte Jack gesagt, wie lange William schon
hier war.
    »Natürlich hat Emma mir geholfen, Pop«, gab Jack zu. »Sogar sehr.«
    [1110]  »Ich wollte damit nicht sagen, daß ich nicht stolz auf dich war,
Jack. Natürlich bin ich stolz auf dich!«
    »Das weiß ich, Pop.«
    In der Männertoilette versuchte Jack, seinem Vater den Blick auf den
Spiegel zu verstellen, doch William pflanzte sich vor dem Waschbecken und nicht
vor dem Urinal auf. Es kam zu einem kleinen Tänzchen. William versuchte, über
Jacks Schulter in den Spiegel zu sehen. Als Jack sich auf die Zehenspitzen
stellte, um seinen Vater daran zu hindern, duckte dieser ab und spähte an
seinem Sohn vorbei. Sie tänzelten hin und her. Es war unmöglich, William daran
zu hindern, in den Spiegel zu sehen.
    Falls Spiegel Auslöser waren, so hatten sie nicht ganz die gleiche
Wirkung auf Jacks Vater wie das Wort Haut. Diesmal
versuchte er nicht, sich auszuziehen. Aber mit jedem Blick, den er von sich
erhaschte, änderte sich sein Gesichtsausdruck.
    »Siehst du den Mann da?« fragte Jacks Vater, als er sich selbst sah.
Es war, als wäre ein dritter Mann bei ihnen in der Männertoilette. »Ihm ist so
einiges passiert«, sagte William. »Einiges Schreckliche.«
    Jack gab den Versuch auf, seinen Vater abzuschirmen, und sah
ebenfalls in den Spiegel. Das Gesicht des dritten Mannes änderte sich
unentwegt. Jack sah seinen Vater so, wie William ausgesehen haben mochte, als
er ihn, Jack, zum erstenmal als Säugling gesehen hatte, bevor Alice mit ihm
verschwunden war – auf Williams plötzlich jungenhaftem Gesicht wurde so etwas
wie Erwartungsfreude von Erstaunen abgelöst. Jack sah, was sein Vater in
Kopenhagen gesehen haben mußte, an jenem Tag, als man die Leiche von Niels
Ringhof aus dem Kastelsgraven gezogen oder als er erfahren hatte, daß Alice mit
dem Jungen geschlafen hatte, um ihn dann zu verlassen.
    Sein Vater sackte Jack in die Arme, als wollte er auf dem Boden der
Männertoilette niederknien – so wie er im Hafen von Rotterdam auf die Knie
gesunken war und Els ihn zu Femkes [1111]  Auto hatte tragen müssen. Oder als der Polizist
Heather nach Hause gebracht und ihm erzählt hatte, man habe Barbara, seine tote
Frau, fälschlich für eine deutsche Touristin gehalten, die am Charlotte Square
beim Überqueren der Straße in die falsche Richtung geschaut habe.
    »Der Körper dieses Mannes ist eine Landkarte«, sagte William und
deutete auf den zusammengesackten Mann im Spiegel. »Sollen wir sie uns zusammen
ansehen,

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