Bis ich dich finde
»Ist das denn nicht gefährlich?« fragte Jack seinen Vater.
»Ich habe keinen Sex mit ihnen, falls du das meinst«, antwortete
William mit dem inzwischen vertrauten, empörten Unterton.
»Ich weiß. Ich meine, gefährlich in anderer Hinsicht«, sagte Jack.
»Zum Beispiel, wo das Ganze stattfindet. Ist es dort gefährlich?«
»Ich habe Hugo dabei!« rief sein Vater. »Ich meine natürlich nicht
im selben Zimmer.«
»Natürlich«, sagte Jack.
Das Besteck, mit dem Dr. von Rohr herumspielte, fiel klirrend auf
den Tisch.
»Warten Sie ab, bis Sie Hugo kennenlernen«, sagte Dr. Krauer-Poppe
zu Jack. »Bei Hugo ist Ihr Vater sicher.«
»Was haben Sie dann gegen ihn?« fragte Jack beide Ärztinnen.
»Warten Sie ab, bis Sie ihn kennenlernen«, war alles, was Dr. von
Rohr sagte.
»Bemitleide mich nicht, Jack«, sagte sein Vater. »Du darfst dir das
nicht so vorstellen, daß ich mich der Masturbation mit einer Prostituierten
ergebe. Das ist kein Akt der Ergebung.«
»Ich verstehe wohl einfach nicht, was es ist«, gab Jack zu.
Alle sahen sie, wie Williams Hand wieder nach seinem Herzen griff;
erneut schoben sich die Finger seiner schwarz behandschuhten Hand auf die
Tätowierung mit dem Semikolon zu. (Zum Essen hatte er sich die Handschuhe mit
Dr. von Rohrs Hilfe ausgezogen. Doch nun, nach beendeter Mahlzeit, trug er sie
wieder.)
»Ich habe in meinem Leben Frauen gehabt, die ich haben wollte – wenn
auch nicht so lang, wie ich es mir gewünscht hätte«, begann William traurig.
»Das könnte ich nicht noch einmal. Ich würde es nicht aushalten, noch jemanden
zu verlieren.«
Die Ärztinnen und Jack wußten über Williams Tätowierung für Karin
Ringhof Bescheid, und auch, wo sie sich befand. Aber [1117] Jack wußte nicht, ob
sein Vater auch eine Tätowierung für Barbara, seine deutsche Frau, hatte – und
wenn, wo sie sich befand. Vielleicht war sie zwischen den Noten verborgen. Er
nahm sich vor, Heather danach zu fragen.
»Ich hab’s kapiert, Pop. Ich verstehe«, sagte Jack zu ihm.
Er fragte sich, ob William jemals die andere Seite seines
Brustkorbes berührte, wo Jacob Bril ihm den blutenden Schnitt zugefügt hatte.
Er hätte gern gewußt, ob diese Tätowierung so berührungsempfindlich war wie die
Tätowierung für die Tochter des Kommandanten und ihren kleinen Bruder. Er
hoffte nicht. Von allen Tätowierungen seines Vaters war Jacob Brils Darstellung
von Christi Blut die einzige mit Farbe.
»Es wird Zeit, daß wir gehen, William«, sagte Dr. Krauer-Poppe sanft
zu ihm. »Was werden Sie morgen für uns spielen – für Jack und mich und Dr.
Horvath?«
Es war ein guter Trick, und Jacks Vater schien ihn nicht zu
durchschauen. Seine rechte Hand zog sich von der Herzgegend und der oberen
linken Seite seines Brustkorbes zurück. Er spreizte die schwarz behandschuhten
Finger auf der weißen Tischdecke – unterm Tisch scharrten seine Füße, als
machte er sich mit den Pedalen vertraut. Seinem Blick war anzusehen, daß er ein
Manual vor seinem geistigen Auge hatte. In seinem Herzen war eine Orgel, so
groß wie die der Oude Kerk. Als William die Augen schloß, konnte Jack die Orgel
beinahe hören.
»Sie erwarten doch nicht etwa, daß ich es Ihnen vorsumme,
Anna-Elisabeth?« sagte William zu Dr. Krauer-Poppe. Sie hatte ihn also doch
nicht hereinlegen können. Sie hielt, genau wie Jack und Dr. von Rohr, den Atem
an, weil sie alle wußten, daß das Wort summen ein
möglicher Auslöser war. Dr. Berger hatte Jack gewarnt, daß William Summen haßte
(obwohl es vielleicht eher das Summen selbst und nicht das Wort war, das er
haßte).
»Wie wäre es, wenn Sie sie morgen früh einfach überraschen,
William?« schlug Dr. von Rohr vor. »Ich frage nur.«
[1118] »Warum nicht?« fragte Jacks Vater. Er sah müde aus.
»Ich habe ein bißchen was, das Sie im Auto schläfrig macht«, sagte
Dr. Krauer-Poppe zu William.
Jacks Vater schüttelte den Kopf. Er war schon schläfrig. »Ich bin
gar nicht begeistert davon, mich von Jack verabschieden zu müssen«, sagte er
gereizt. »Ich habe mich schon einmal von dir verabschiedet – viel zu oft, mein
lieber Junge. Ich habe mich hier von dir
verabschiedet«, sagte er, und seine Hand berührte erneut sein Herz, »und hier «, sagte er, und deutete auf seine Augen, »und hier drin !« Nun weinte er, während er sich den Zeigefinger
an die Schläfe hielt.
»Du siehst mich ja morgen früh, Pop.« Jack hielt das Gesicht seines
Vaters in beiden Händen. »Du wirst mich
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