Bis ich dich finde
Jack?«
»Vielleicht später, Pop. Nicht jetzt.«
»Nicht jetzt«, stimmte sein Vater zu.
»Du hast gesagt, du mußt pinkeln, Pop«, erinnerte ihn Jack.
»Ach so«, sagte William und löste sich von seinem Sohn. »Ich glaube,
das habe ich schon.«
Beide schauten sie auf seine Hose. William trug eine Khakihose mit
den gleichen Bundfalten und scharf gebügelten Hosenbeinen, wie sie auch
Professor Ritter bevorzugte, doch sie hatte vorn einen großen dunklen Fleck.
Seine Füße standen in einer Urinpfütze.
»Ich hasse es, wenn das passiert«, sagte er. Jack wußte nicht, was
er tun sollte. »Keine Sorge, Jack. Dr. von Rohr wird uns gleich zu Hilfe
kommen. Was glaubst du denn, wofür ihre Tasche wirklich da ist?« William drehte
sich abrupt vom Spiegel weg – als hätte der dritte Mann ihn beleidigt oder
beschämt.
Das oberärztliche Klopfen an der Tür der Männertoilette war
scheinbar fester Bestandteil im Tagesablauf seines Vaters. »Herein!« rief
William.
Dr. von Rohrs langer Arm langte in die Männertoilette. Ohne ihr
Gesicht zu zeigen, hielt sie Jack ihre übergroße Handtasche hin. »Danke«, sagte
Jack und nahm ihr die Tasche aus der Hand.
»Wenn er sich ohne Kleider im Spiegel sieht, ist es anders«, warnte
sie Jack und ließ die Tür zufallen.
Jack zog seinen Vater aus und wischte seinen Körper mit
Papierhandtüchern ab, die er mit warmem Wasser befeuchtete. Zum [1112] Abtrocknen
benutzte er weitere Papierhandtücher. William ließ diese Behandlung über sich
ergehen wie ein wohlerzogenes Kind.
Jack schaffte es, ihn vom Spiegel wegzulotsen. Doch während William
nackt dastand und Jack in Dr. von Rohrs großer Tasche nach der Kleidung zum
Wechseln suchte, kam ein gutgekleideter Herr in die Männertoilette, und er und
Jacks Vater wechselten Blicke. Für diesen Herrn, der wie ein Bankier mittleren
Alters aussah, war Jacks Vater ein nackter, tätowierter Mann. Für William Burns
war der gutgekleidete Bankier – falls Jack den empörten Gesichtsausdruck seines
Vaters richtig deutete – ein Störenfried, der zudem einen innigen Augenblick
zwischen Vater und Sohn störte. Für den Herrn wiederum war William Burns ein
nackter, tätowierter Mann mit Handschuhen – und was er von den Kupferarmbändern
hielt, ließ sich nicht sagen.
Der Bankier warf Jack einen sattsam bekannten Blick zu, der besagte:
Ich weiß, wer du bist. (Er hatte pinkeln wollen und war statt dessen in
irgendeinen schrägen Film geraten!)
»Er ist harmlos«, sagte Jack, dem einfiel, was Schwester Waltraut zu
der armen Pamela gesagt hatte.
Der Bankier bezweifelte das offensichtlich. Jacks Vater hatte sich
die Lungen mit Luft gefüllt, blähte wie ein Hahn den Brustkorb, ballte die
Fäuste und streckte sie vor.
Jack versuchte sich auf sein Exeter-Deutsch zu besinnen und hoffte
das Beste. »Keine Angst. Er ist mein Vater«, sagte er zu dem Bankier. Und das
war das schwierigste: »Ich passe auf ihn auf.« Der Bankier, der erkennbar kein
Wort glaubte, ergriff die Flucht.
Dann war er verschwunden – der einzig wirkliche dritte Mann, der für
kurze Zeit bei Jack und seinem Vater in der Männertoilette gewesen war –, und
Jack zog William an, wobei er sich zu erinnern versuchte, wie zügig und
zugleich sanft Dr. Horvath seinen Vater in der Klinik angezogen hatte.
Es schien seinen Vater zu beruhigen, ihm Noten zu erklären. [1113] Offenbar wußte er, daß sein Sohn nichts von Musik verstand. »Bei
Viertelnoten ist der Kopf ausgefüllt, und sie haben einen Hals«, sagte sein
Vater zu ihm. »Bei Achtelnoten ist der Kopf ebenfalls ausgefüllt, und sie haben
entweder ein Fähnchen oder werden durch einen Balken miteinander verbunden.
Sechzehntelnoten haben einen ausgefüllten Kopf und sind durch einen
Doppelbalken miteinander verbunden.«
»Und was ist mit halben Noten?« fragte Jack.
»Halbe Noten, bei denen der Kopf weiß bleibt – na ja, bei mir wohl
eher fleischfarben«, sagte sein Vater und verstummte jäh.
Fleisch: Sie hatten es beide gehört. Aber
war es auch ein Auslöser? (Bei dem es, wie Dr. Horvath vielleicht gesagt hätte,
ebensowenig ein Halten gab wie bei dem Wort Haut ?)
»Halbe Noten, bei denen der Kopf weiß bleibt«, soufflierte Jack
seinem Vater, damit er weitersprach. »Und weiter?«
»Haben einen Hals«, erwiderte Jacks Vater stockend – vielleicht
flackerte das Wort Fleisch noch im Halblicht oder
Halbdunkel seines Geistes, wo halb schlafend oder halb wach sämtliche Auslöser
lagen. »Ganze Noten haben
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