Bis ich dich finde
an Händen und Unterarmen, Füßen und
Knöcheln. Alles, was weiter oben sei, sei »zu hoch«, sagte er, alle anderen
Bereiche des weiblichen Körpers seien »zu intim«.
Frauen, die religiöse Tätowierungen an zu hohen oder zu intimen
Stellen haben wollten, verwies Bril an Tochter Alice, obgleich er es nicht gern
sah, daß sie religiöse Motive stach. Er fand, sie sei nicht religiös genug, um
das mit dem nötigen Ernst zu tun.
Alice hatte ein hübsches kleines, mit Rosen umkränztes Kreuz im
Repertoire, das junge Frauen sich gern ins Dekolleté tätowieren ließen – als
wäre es ein Anhänger an einer langen, unsichtbaren Kette. Ihr »Christus am
Kreuz« paßte auf ein Schulterblatt. (Ihre Darstellung zeigte weniger Qual und
sehr viel weniger Blut als Brils sterbender Jesus.) Und sie stach »Christus mit
der Dornenkrone« gewöhnlich auf Oberarm oder Oberschenkel. Bril mißfiel das
Motiv, weil er den Gesichtsausdruck des Heilands »zu ekstatisch« fand.
»Vielleicht ist mein Jesus bereits im Himmel«, sagte Alice.
Jacob Bril reagierte hitzig: Er holte mit dem Arm aus, als wollte er
Alice mit dem Handrücken ins Gesicht schlagen.
»Nicht in meinem Studio, Bril«, sagte Tatoeërer-Pieter.
»Nicht wenn Jack dabei ist.« (Alice’ üblicher Satz.)
Bill starrte die beiden mit dem Haß an, der sonst den Prostituierten
galt.
Jack und Alice sahen nie, wie Jacob Bril samstags um Mitternacht das
Studio verließ, wenn das Rotlichtviertel vor Geschäftigkeit summte, wenn es von
Menschen wimmelte und sämtliche Frauen arbeiteten. Jack fragte sich später, wie
lange Bril wohl [128] gebraucht hatte, um an jeder Prostituierten in jedem
Fenster, jedem Hauseingang vorbei zum Krasnapolsky zu kommen.
Verlangsamte er je seine Schritte? Gab es jemals eine Frau, die ihn
veranlaßte stehenzubleiben? Sah Bril nur im Schlaf nicht Schwefel und Feuer vom
Himmel regnen, oder brannten die Feuer der Hölle in seinen Träumen noch heller?
Weil Alice das warme Studio nicht mit Bril teilen mochte, machte
Tatoeërer-Pieter samstags oft den Vorschlag, sie solle doch zum Zeedijk gehen
und sehen, ob sie Theo Rademaker im Rode Draak etwas beibringen könne.
»Der arme Tatoeërer-Theo«, sagte Pieter. »Der könnte heute mal eine
Pause vertragen. Oder eine Lektion von Tochter Alice.«
Der oft verspottete Theo gehörte nicht in die Kategorie der Picker –
er hatte nur das Pech, im selben Viertel zu arbeiten wie jemand, der so gut war
wie Tatoeërer-Pieter. Rademaker war keineswegs so schlecht wie Sami Salo oder
Trond Halvorsen. Alice sagte, was ihm fehle, sei nicht Fertigkeit, sondern
Geschmack. Und sie mochte Tatoeërer-Theos jungen Lehrling Robbie de Wit. Jeder
im Viertel wußte, daß Robbie sie verehrte.
Jack und Alice mieden Jacob Brils Gesellschaft, wann immer sie
konnten. (Bril vermißte sie nicht; auch er wollte sie nicht um sich haben.)
Theos Studio war für die beiden eine willkommene Abwechslung. Besonders
samstags kamen dort viele Touristen vorbei. An manchen Samstagen, wenn
Tatoeërer-Pieter mehr Kunden hatte, als er und Bril bedienen konnten, war
Pieter großzügig und schickte ein paar davon zum Rode Draak, nicht ohne ihnen
einzuschärfen, sie sollten nach Tochter Alice fragen.
Rademaker war sicher froh darüber, aber es muß ihn auch geschmerzt
haben, wenn ein Kunde Alice verlangte. Tatoeërer-Theo mochte Alice, und sie
mochte ihn. Das Leben von Jack und seiner Mutter hatte wieder einen geregelten
Ablauf. Ihre ersten Wochen im Rotlichtviertel waren so schön wie die schönsten [129] Tage in Kopenhagen bei Tatovør-Ole und Herzensbrecher-Madsen.
Wie Lars versuchte Robbie de Wit, Alice’ Herz zu erobern, indem er
freundlich zu Jack war. Alice fand ihn nett, aber das war auch alles. Sie
teilte Robbies Faible für Bob Dylan, und bei den Dylan-Songs, die das Surren
der Maschinen im Rode Draak übertönten, sangen sie laut mit. Auch Rademaker
mochte Dylan. Er nannte ihn bei seinem richtigen Namen, den er immer deutsch
aussprach.
»Sollen wir uns ein bißchen Zimmermann anhören?« sagte
Tatoeërer-Theo und zwinkerte Jack zu, der die Platten auflegen durfte.
Jack gefiel das schüttere Bärtchen an Robbies Kinn – es erinnerte
ihn an Herzensbrecher-Madsens Versuche, sich an der gleichen Stelle einen Bart
wachsen zu lassen. Weil die Krippenfiguren und das Jesuskind noch immer nach
Gras rochen, erkannte er den süßlichen Duft von Marihuana, der von Robbies
selbstgedrehten Zigaretten aufstieg, aber er zählte nicht, wie oft
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