Bis ich dich finde
jemand sonst, auch seine Übungskonzerte seien ebenso
berühmt wie berüchtigt gewesen. (Jack war inzwischen durch den Geruch von
Babypuder abgelenkt und gänzlich durcheinander.)
[132] »Ich habe größte Hochachtung vor William – als Organist«, sagte
der junge Donkers.
»Ich denke, er war nur als Orgelstimmer hier«, sagte Alice.
Frans Donker ging auf diese Bemerkung nicht ein. Er erklärte ihr mit
großer Ernsthaftigkeit, in der Oude Kerk gehe es vom frühen Morgen bis zum
Abend recht geschäftig zu. Außer den Gottesdiensten und Chorproben fänden hier
abends auch diverse kulturelle Veranstaltungen statt, nicht nur Konzerte und
Liederabende, sondern auch Vorträge und Lesungen. Es wäre sehr unpassend
gewesen, wenn jemand währenddessen die Orgel gestimmt hätte.
»Wann hat er sie denn gestimmt?« fragte Alice.
»Tja…« Frans Donker zögerte mit der Antwort. Vielleicht sagte er:
»William fing erst gegen Mitternacht an zu stimmen. Und in den meisten Nächten
begann er erst um zwei oder drei Uhr morgens zu üben.«
»Dann spielte er also vor einer leeren Kirche?« fragte Alice.
»Tja…« Wieder zögerte Frans Donkers. Jack langweilte sich
entsetzlich, seine Gedanken waren anderswo, doch er glaubte zu hören, wie
Donkers sagte: »Die Oude Kerk ist eine sehr große Kirche, ein sehr großer
Klangkörper. Die Nachhallzeit beträgt fünf Sekunden.« Das Wunderkind sah zu
Jack und sagte: »Das ist die Zeit, die der Nachhall braucht, bis er verklungen
ist.«
»Aha«, sagte der Junge nur. Er kämpfte mit dem Schlaf.
Donker konnte gar nicht mehr aufhören zu erklären. »Die
Bach-Tokkaten, die dein Vater am liebsten spielte, wurden für Orgeln in großen
Räumen geschrieben. Der Raum vergrößert die Musik –«
»Lassen wir mal die Musik beiseite«, unterbrach ihn Alice. »Er hat
also vor einer leeren Kirche gespielt?«
»Tja…«
Schon Alice fiel es schwer, das nun Folgende zu verstehen, doch Jack
begriff gar nichts. Wenn die Nachhallzeit innerhalb [133] der Oude Kerk fünf Sekunden betrug, wie lange brauchte der Nachhall der
Orgel bei Bachs dramatischsten Werken – beispielsweise der »Tokkata und Fuge in
d-Moll« –, um an die Ohren der Prostituierten in ihren Zimmern am
Oudekerksplein zu dringen, jenem hufeisenförmigen Platz, auf dem die Kirche
steht? (Vielleicht sechs oder sieben Sekunden? Oder hörten die Huren ihn
ebenfalls nach fünf Sekunden?)
Außerhalb der Kirche war die Orgel sicher nur gedämpft zu hören,
doch um zwei oder drei Uhr morgens, wenn der Betrieb im Rotlichtviertel langsam
abnahm, hatte die kalte Winterluft die Klänge bestimmt weit über den
Oudekerksplein hinausgetragen. Die Frauen, die in der schmalsten, übelsten
Gasse, dem nahe gelegenen Trompetterssteeg standen, hatten gewiß keine
Schwierigkeiten, William Burns seinen verehrten Händel und seine liebsten
Bach-Stücke spielen zu hören. Selbst jenseits der Gracht, auf der anderen Seite
des Oudezijds Voorburgwal, konnten die Frauen, die noch in den Hauseingängen
standen, ihn gut hören.
»Um diese Nachtzeit machen viele der älteren Prostituierten
Feierabend«, sagte Frans Donker vorsichtig und etwas beklommen, denn er begab
sich jetzt möglicherweise auf ein Nicht-wenn-Jack-dabei-ist-Terrain. (Er wußte
nicht, daß Jack glaubte, Prostituierte seien unermüdliche Ratgeberinnen, die
sich mühten, den armseligsten Exemplaren des männlichen Geschlechts
beizubringen, was diese über Frauen wissen sollten.)
Damals gab es im Rotlichtviertel viele ältere Prostituierte – manche
waren über sechzig –, und viele von ihnen arbeiteten in Erdgeschoßwohnungen in
der Nachbarschaft der Oude Kerk. Vielleicht ließen sich die älteren Frauen im
Viertel von Musik leichter rühren als die jüngeren, doch Donker gab zu, daß
auch einige der jungen Prostituierten über Nacht zu Verehrerinnen von Bach und
Händel geworden waren.
»Die Prostituierten kamen in die Kirche, um ihn spielen zu hören?«
fragte Alice.
[134] Frans Donker rutschte auf der Orgelbank hin und her. Er rutschte
auf dem glatten Lederbezug zur einen und zur anderen Seite. ( Jetzt riecht es wieder nach Babypuder, dachte Jack.)
Jahre später erinnerte ihn der Geruch von Babypuder an die
Prostituierten; er sah geradezu, wie die müden Frauen sich abschminkten und die
Berufskleidung in ihre schmalen Schränke hängten. Wenn sie nach Hause gingen,
hatten sie keine Miniröcke oder hochhackigen Schuhe an. Ihre Zivilkleidung
bestand aus Jeans oder Baumwollhosen;
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