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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ihre Schuhe oder Stiefel hatten keine
nennenswerten Absätze, und meist trugen sie einen wenig kleidsamen, aber warm
wirkenden Mantel und eine Wollmütze. Sie sahen überhaupt nicht wie
Prostituierte aus, nur daß es eben zwei oder drei Uhr morgens war, und welche
andere Frau wäre um diese Zeit allein unterwegs?
    Was hatte die Orgelmusik nur, das die Frauen in ihren Bann zog und
sie ein, zwei Stunden länger als sonst im Rotlichtviertel festhielt? Frans
Donker erklärte, es hätten gewöhnlich ein Dutzend Frauen oder mehr in der Oude
Kerk gesessen, und viele seien geblieben, bis William aufgehört habe zu
spielen. Das sei oft erst um vier oder fünf Uhr gewesen – um diese Zeit sei es
in der Kirche sehr kalt.
    William Burns hatte ein Publikum gefunden: Er hatte für
Prostituierte gespielt!
    »Das gefiel ihnen sehr«, fuhr das Wunderkind fort, mit einer
Autorität, wie sie nur ein Wunderkind oder ein Verrückter besitzt. »Manchmal
bin ich selbst um diese Zeit aufgestanden und zur Kirche gegangen, um ihn
spielen zu hören. Jedesmal waren mehr Frauen da. Er ist sehr gut. Er beherrscht
seinen Bach und Händel aus dem Effeff.«
    »Lassen wir die Musik beiseite«, sagte Alice noch einmal. »Was ist
dann passiert?«
    »Anscheinend hat eine der Frauen ihn mit nach Hause genommen – oder
vielmehr nicht nur eine.«
    [135]  Doch das war noch nicht alles. (Auch diesmal war der Babypuder
daran schuld, daß Jack sich nicht konzentrieren konnte.)
    Die Kirchenleitung fand das alles – daß William für Prostituierte
spielte, ja sich mit ihnen einließ – vermutlich höchst unpassend. Immerhin
handelte es sich um eine Kirche. Sie entließen ihn – oder so etwas in der Art.
Und einige der älteren Prostituierten protestierten. In Amsterdam gab es
andauernd irgendwelche Demonstrationen. Vom Hotel Krasnapolsky aus hatten Alice
und Jack etliche Kundgebungen auf dem Dam gesehen. Es war die Zeit der Hippies.
Alice stach eine Menge »Peace«-Zeichen und (oft im männlichen oder weiblichen
Genitalbereich) den idiotischen Slogan »Make Love, Not War«. Mindestens einer
der Protestzüge, die sie gesehen hatte, war eine Anti-Vietnam-Demonstration
gewesen.
    Vielleicht hatten die Prostituierten des Rotlichtviertels nicht nur
Partei für William ergriffen, sondern ihn auch aufgenommen. »Für sie war er ein
verfolgter Künstler«, sagte Frans Donker. »Manche von ihnen halten sich
ebenfalls dafür.«
    Auf die Frage, ob er wisse, wo William jetzt sei, sah das Wunderkind
nicht Alice, sondern Jack an und sagte: »Sie müssen die Prostituierten fragen.
Ich würde bei den älteren anfangen.«
    Alice wußte, welche sie fragen mußte. Es waren hauptsächlich, aber
nicht ausschließlich, die älteren. Es waren die Frauen, die so auffallend
unfreundlich gewesen waren.
    »Vielen Dank«, sagte sie zu dem Hilfsorganisten. Sie stand von der
Bank auf und streckte Jack die Hand hin.
    »Soll ich etwas für Sie spielen?« fragte Frans Donker. Alice zog
ihren Sohn bereits zu der schmalen Treppe. Sie waren auf einer Art Empore am
hinteren Ende des gewaltigen Schiffs der Oude Kerk, hoch über der Gemeinde und
von dieser nicht zu sehen. Die Orgelpfeifen ragten mehr als sechs Meter hoch
über ihnen auf.
    »Etwas, was William gern spielt, bitte«, sagte Alice zu dem [136]  jungen Organisten. Sie hatte nicht die Absicht, zu bleiben und zuzuhören.
    Als sie sich zum Gehen wandten, sah Jack, wie Donker Babypuder auf
die Bank streute. Es war tatsächlich Babypuder! Sein Hosenboden war davon ganz
weiß. Er konnte nicht von einem Ende der drei Manuale zum anderen greifen, ohne
auf der Bank hin- und herzurutschen, und darum mußte das Leder so glatt wie
möglich sein.
    Über den Manualen war ein Giebel, dessen Holz mit Löchern übersät
war, weil alte Registerzüge abgebrochen oder entfernt worden waren. Der
Organist konnte außer seinen Noten nur ein Buntglasfenster sehen. Alles rings
um Frans Donker war alt und abgenutzt, doch als er zu spielen begann, war das
ganz unwichtig.
    Alice schaffte es nicht, die Oude Kerk rechtzeitig zu verlassen. Der
tiefe, sonore Grundton, die perfekt gesetzten Töne, die Antiphonie und der
gewaltige Widerhall – als sie die Treppe hinuntergingen, traf Bachs Tokkata und
Fuge in d-Moll sie wie ein Hammerschlag. Jack erinnerte sich noch lange an den
hölzernen Handlauf auf der einen Seite der Wendeltreppe. Auf der anderen Seite
diente ein gewachstes Seil als Halt, so dunkelbraun wie verbrannter Karamel und
so dick wie das Handgelenk

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