Bis ich dich finde
seine Mutter
an ihnen zog. Sie sagte nur, sie könne Bobs Songs dann besser mitsingen.
Rademaker hatte einen Sommer lang auf einem Fischerboot vor der
Küste von Alaska gearbeitet. Ein »Eskimo-Tätowierer« hatte ihm einen Seehund
auf die Brust und einen Kodiakbären auf den Rücken tätowiert.
Jack und seine Mutter waren relativ glücklich – jedenfalls kam es
Jack so vor.
Seine Mutter schrieb eine weitere Postkarte an Mrs. Wicksteed.
Damals wußte Jack nicht, daß Mrs. Wicksteed ihnen Geld geschickt hatte. Sie war
es auch, die Alice geraten hatte, in Hotels abzusteigen, die sie sich
eigentlich nicht leisten konnten. Sie war wirklich eine Förderin. (Vielleicht
glaubte Mrs. Wicksteed, gute Hotels seien für Alice’ Zukunft ebenso bedeutsam
wie der Verlust ihres schottischen Akzents.)
[130] Auf der Postkarte war eine von Amsterdams Grachten zu sehen, die
Prostituierten in den Fenstern und Hauseingängen natürlich nicht. »Jack läßt
Lottie grüßen«, schrieb Alice. Jack konnte sich später nicht erinnern, ob da
noch mehr gestanden hatte. Er malte ein lächelndes Gesicht neben Lotties Namen,
und neben dem Gesicht war gerade noch genug Platz für ein J.
»Lottie wird schon wissen, wer damit gemeint ist«, versicherte ihm
Alice.
Die Postkarte mit Jacks lächelndem Gesicht machte sich auf den Weg
nach Toronto.
Aber was war mit dem kleinen Jungen, der mit drei Jahren das
konsekutive Gedächtnis eines Neunjährigen gehabt hatte? Wo waren Jacks
Erinnerungsvermögen für Einzelheiten und sein Verständnis von linearer Zeit, die
mit vier Jahren denen eines Elfjährigen entsprochen hatten?
Nicht in Amsterdam, wo sie nach seinem Gefühl bereits Monate gelebt
hatten, bevor sie einen Fuß in die Oude Kerk gesetzt und deren gewaltige Orgel
gehört hatten. In Wirklichkeit hatte Alice nicht einmal eine Woche verstreichen
lassen.
Die Oude Kerk liegt mitten im Rotlichtviertel und ist vermutlich
1306 vom Bischof von Utrecht geweiht worden. Sie ist das älteste Gebäude in
Amsterdam. Die Kirche hat zwei Feuersbrünste überstanden – 1421 und 1452 –, und
ihre Altäre wurden 1566 von Bilderstürmern schwer beschädigt. 1578 erklärte
sich Amsterdam offiziell zur protestantischen Stadt. Man entfernte allen
römisch-katholischen Zierat aus der Kirche und gestaltete das Innere so um, daß
es protestantischen Vorstellungen entsprach. Die Kanzel stammt aus dem Jahr
1643, der Lettner aus dem Jahr 1681. Rembrandts erste Frau ist in der Oude Kerk
begraben, ebenso fünf niederländische Seehelden des 17. Jahrhunderts.
Auch die Orgel, von Kari Vaara zu Recht als gewaltig bezeichnet, ist
alt. Sie wurde 1726 von dem Hamburger Christian Vater [131] gebaut. Er brauchte
zwei Jahre, um das riesige und wunderschöne Instrument mit den dreiundvierzig
Registern zu vollenden, doch leider verstimmte es sich, sobald mehr als ein
Register gezogen wurde. Die Enttäuschung über die Orgel war also ebenfalls
gewaltig – elf Jahre lang war sie verstimmt. Schließlich beauftragte man einen
Mann namens Müller, die Vater-Orgel zu demontieren und dem Problem auf den
Grund zu gehen. Es dauerte fünf Jahre, bis er es gelöst hatte.
Dennoch blieb die Orgel in der Oude Kerk die meiste Zeit verstimmt.
Wegen der Temperatur in der Kirche – die Oude Kerk kann nicht geheizt werden –
muß sie vor jedem Konzert aufs neue gestimmt werden.
An jenem Tag war es kalt in der Kirche, und Alice und Jack saßen
beim Hilfsorganisten auf der Orgelbank. Er war ein teiggesichtiger, bartloser
Jüngling und offenbar so etwas wie ein Wunderkind. Von seinem Talent hatte ihr
der Hauptorganist Jacob Venderbos vorgeschwärmt, der jedoch keine Zeit für ein
längeres Gespräch hatte. (Venderbos spielte auch Orgel in der Westerkerk sowie
in Kirchen in Delft und Haarlem.) Statt dessen sprach Alice also mit seinem
fünfzehnjährigen Schüler.
Der Name des jungen Genies war Frans Donker, und seinem Alter
entsprechend war er von Alice eingeschüchtert. Wie Andreas Breivik schaffte er
es nicht, sie anzusehen. Soweit Jack es verstand, erfuhr seine Mutter, daß Kari
Vaara sich geirrt hatte: Man hatte William nicht eingestellt, damit er die
Orgel spielte – er sollte sie lediglich stimmen. Als Gegenleistung für diese
nie endende und anspruchsvolle Arbeit durfte er auf dem gewaltigen Instrument
üben. Es sei tatsächlich eine besondere Orgel, sagte Frans Donker, »sowohl groß
als auch schwierig«, und William habe sie nicht nur in reinerer Stimmung
gehalten als irgend
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