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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Hühnerhals. »Du kannst sie ruhig anfassen,
Jack«, sagte Saskia. Zögernd strich er darüber.
    »Tut es weh?« fragte er.
    »Jetzt nicht mehr.«
    »Und die Zähne?« fragte der Junge.
    »Die fehlenden nicht.« Sie ließ ihn einen Armreif nach dem [142]  anderen über ihre Hand streifen, und er achtete darauf, es in der richtigen
Reihenfolge zu tun: erst die breiten, dann die schmalen.
    Wer hätte dieser dünnen, immer hungrigen Frau die Bitte, ihr ein
Sandwich mitzubringen, abschlagen können? Jack nahm es Oom Gerrit, dem
Fahrradmann, übel, daß er nicht für Saskia einkaufte. Dabei hatte der
verdrießliche alte Mann seine Gründe. Er hatte sein Fahrrad oft in den frühen
Morgenstunden an der Oude Kerk abgestellt, und mehr als einmal war er
hineingegangen und hatte der erhebenden Musik gelauscht. Oom Gerrit hatte viel
für William Burns übrig. Und Saskia vielleicht nicht.
    »Sie sollten mit Femke sprechen«, sagte der Fahrradmann zu Alice.
»Ich selbst hab ihn zu ihr geschickt. Femke weiß, was gut für den Jungen ist.«
    Obgleich Jack kein Wort verstand, merkte er, daß Oom Gerrit auch auf
seine Mutter wütend war. Jack und Alice standen im Stoofsteeg, als der
Fahrradmann davonradelte. Er bog um die Ecke und fuhr am Casa Rosso vorbei, wo
man sich Pornofilme und Live-Sex-Shows ansehen konnte. Natürlich wußte Jack
nicht, was das war. (Er vermutete, daß es dort noch mehr Ratschläge gab.)
    Die Prostituierte im Hauseingang am Ende des Stoofsteegs hieß Els.
Jack glaubte, daß sie etwa so alt wie seine Mutter war, vielleicht ein bißchen
älter. Sie war immer freundlich. Sie stammte vom Land und hatte Alice und Jack
erzählt, eines Tages werde sie bestimmt ihrem Vater oder ihren Brüdern im
Rotlichtviertel begegnen. Was für eine Überraschung, wenn sie sie in einem
Fenster oder Hauseingang sehen würden! Sie werde sie nicht hereinbitten, sagte
sie. (Wahrscheinlich waren diese Männer so verwirrt, dachte Jack, daß kein
Ratschlag fruchtete.)
    »Wer ist Femke?« fragte Jack seine Mutter.
    Els sagte: »Ich erzähle euch Femkes Geschichte.«
    »Vielleicht nicht wenn Jack dabei ist«, sagte Alice.
    »Kommt rein, und ich erzähle euch die Geschichte so, daß Jack [143]  nicht verwirrt wird«, sagte Els. Doch entweder Els oder Alice erzählte
Femkes Geschichte dann doch so, daß der Junge ganz und gar verwirrt war.
    Els trug immer eine platinblonde Perücke. Ihr natürliches Haar hatte
Jack noch nie gesehen. Wenn sie ihren fleischigen Arm um Jacks Schultern legte
und sein Gesicht an ihre Hüfte drückte, spürte er, wie stark sie war – das war
bei einem Mädchen vom Land ja auch kaum anders zu erwarten. Und Els hatte die
Oberweite und das weit ausgeschnittene Dekolleté einer Opernsängerin. Ihr Busen
wölbte sich so ehrfurchtgebietend wie der Bug eines großen Schiffes. Wenn eine
solche Frau einem sagt, sie wolle eine Geschichte erzählen, tut man gut daran,
aufmerksam zuzuhören.
    Aber Jack war sofort abgelenkt. Zu seiner Überraschung hatte Els’
Zimmer große Ähnlichkeit mit dem Saskias. Auch hier konnte man sich nur auf ein
Bett mit einem darüber gebreiteten Handtuch setzen, und so nahmen die drei dort
Platz. Alice hätte unbesorgt sein können: Femkes Geschichte enthielt keine
Nicht-wenn-Jack-dabei-ist-Elemente. Der Junge war fasziniert von dem Zimmer und
Els’ gigantischen Brüsten. Er verstand nicht, was sie über Femke zu sagen
hatte, die anscheinend einigermaßen neu im Beratungsgeschäft war. Zu seiner
Verwirrung trug die Tatsache bei, daß sie außerdem die finanziell sehr gut
gestellte Exfrau eines Amsterdamer Rechtsanwalts war. Vielleicht hatten sie in
derselben Kanzlei gearbeitet – Jack schnappte etwas von »Familienrecht« auf.
Und hier gewann die Geschichte an Tempo: Femke hatte entdeckt, daß ihr Mann den
teureren Prostituierten im Korsjespoortsteeg und in der Bergstraat häufig
Besuche abstattete. Sie war eine treue Ehefrau gewesen, aber nun schrieb sie in
mehr als einer Hinsicht niederländische Scheidungsgeschichte.
    Femke kaufte ein Zimmer in der Bergstraat, an der Ecke Herengracht.
Das Zimmer war insofern ungewöhnlich für eine [144]  Prostituierte, als es ein
Souterrainfenster hatte und der Eingang am Fuß einer kleinen Treppe lag, die
von der Straße hinunterführte. Passanten konnten ebenso auf die Prostituierte
hinabsehen wie die Leute in den vorbeifahrenden Wagen.
    War Femke so wütend, daß sie tatsächlich ein Zimmer kaufte und an
eine Prostituierte vermietete – und somit an

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