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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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eines Mannes.
    Sie taumelten aus der Wendeltreppe, als hätte der gewaltige Klang
sie betrunken gemacht. Alice wollte so schnell wie möglich hinaus, bog jedoch
falsch ab. Mit einemmal waren sie im Mittelgang; vor ihnen lag der Altar. Sie
waren ganz und gar eingehüllt in die donnernde Musik.
    Mitten in der Kirche stand ein verwirrtes Grüppchen Touristen. Ein
Fremdenführer schien urplötzlich verstummt zu sein: Sein Mund stand offen, so
daß es aussah, als kämen die Töne von ihm. Was immer er zu sagen hatte – es
würde warten müssen, bis Tokkata und Fuge vorbei waren.
    [137]  Draußen auf dem Oudekerksplein, im schwindenden Licht des frühen
Abends, konnten auch die Prostituierten in ihren Fenstern und Hauseingängen die
Musik hören. Offensichtlich kannten sie das Stück, das Frans Donker spielte;
zweifellos hatten sie es an so manchem frühen Morgen gehört. Ihre kritischen
Gesichter verrieten Alice und Jack, daß William es besser spielte als der junge
Frans Donker.
    Die beiden eilten davon. Jetzt war nicht der Augenblick, den
unfreundlichen Frauen Fragen zu stellen – nicht, solange die Musik zu hören
war. Der gewaltige Klang folgte ihnen durch die Warmoesstraat. Sie gingen an
der Polizeiwache vorbei, und noch immer ertönte Gottes heiliger Lärm. Erst als
sie die Hälfte des Weges zu Tatoeërer-Pieters Studio am St. Olofssteeg
zurückgelegt hatten, konnten sie die Orgel nicht mehr hören.
    War Williams Karriere als Organist auf dem absteigenden Ast? Stimmte
er die Orgeln jetzt nur noch, übte er, anstatt Konzerte zu geben – oder spielte
er nur noch zu unchristlichen Zeiten und für ein ungebildetes Publikum? Oder
war es tatsächlich ein Privileg, die gewaltige Orgel der Oude Kerk auch nur zu
hören?
    Es war ein Klang, der ebenso riesig wie heilig war. Sogar die
Prostituierten – Frauen also, die sonst wenig geneigt waren, irgend etwas ohne
Bezahlung zu tun – zwang er, sich ihm ganz zu überlassen und nur zu lauschen.

[138]  7
    Ebenfalls nicht auf ihrer Route
    Am
9. November 1939 erlebte Leith den ersten deutschen Luftangriff. Der Hafen trug
keine Schäden davon, aber in dem überfüllten Luftschutzkeller erlitt Alice’
Mutter eine Fehlgeburt. »Ich hätte damals geboren werden sollen«, sagte Alice
immer.
    Wäre Alice »damals« geboren worden, dann wäre ihre Mutter vielleicht
nicht während der Geburt gestorben, und Alice hätte William Burns vielleicht
nie kennengelernt – und wenn sie ihn kennengelernt hätte, dann wäre sie so alt
gewesen wie er. »Und in diesem Fall«, pflegte sie zu sagen, »wäre ich gegen
seinen Charme immun gewesen.« (Selbst als Kind bezweifelte Jack das.)
    Auch wenn sich der Junge nicht an den Namen der surinamischen
Prostituierten erinnern konnte, die ihm entweder in der Bergstraat oder im
Korsjespoortsteeg eine Tafel Schokolade, so dunkel wie ihre Haut, geschenkt
hatte, so erinnerte er sich doch recht gut, daß diese beiden kleinen Straßen
zwischen Singel und Herengracht ein Stück vom Rotlichtviertel entfernt lagen –
etwa zehn bis fünfzehn Minuten zu Fuß – und daß diese Gegend weniger
heruntergekommen und eher ein Wohnviertel war.
    Das Gerücht, das Alice veranlaßt hatte, William dort zu suchen,
stammte entweder von der blonden Nel oder von der schwarzen Lola: Sie solle
doch mit Oom Gerrit – Onkel Gerrit –, dem Fahrradmann, sprechen. Die schwarze
Lola war eine ältere weiße Prostituierte mit pechschwarz gefärbtem Haar, und
Oom Gerrit war ein mürrischer alter Mann, der mit seinem Fahrrad die Einkäufe
für die Prostituierten erledigte. Er hatte ein [139]  Notizbuch, in das die Frauen
schreiben konnten, was sie zum Mittagessen oder als Zwischenmahlzeit haben
wollten. Er hatte etwas gegen lange Einkaufslisten und weigerte sich, Tampons
oder Kondome zu kaufen. (Sofern es einen Tampon- oder Kondommann gab, der für
die Prostituierten einkaufte, so lernten Alice und Jack ihn nie kennen.)
    Die Frauen zogen Oom Gerrit unentwegt auf. Zur Strafe hörte er
manchmal ein paar Tage lang auf, für eine Frau, die ihn besonders geärgert
hatte, einzukaufen. Eine sehr dünne Frau namens Saskia bat Alice und Jack öfter,
ein Sandwich für sie zu kaufen. Saskia aß ohne Rücksicht auf ihre Figur, und
Oom Gerrit war immer wütend auf sie. Beinahe jedesmal, wenn sie Alice und Jack
sah, gab sie ihnen Geld für ein Croissant mit Schinken und Käse. Wenn die
beiden dann wieder bei ihr vorbeikamen, gaben sie Saskia das Croissant –
vorausgesetzt, sie hatte nicht gerade

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