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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einen Freier.
    Weil Saskia sehr gefragt war, bekam Jack viele
Schinken-Käse-Croissants zu essen. Alice machte es nichts aus, Saskias
Croissants von ihrem eigenen Geld zu bezahlen. Wie viele Frauen im
Rotlichtviertel hatte Saskia eine interessante Geschichte zu erzählen, und
Alice war eine gute Zuhörerin – sofern es eine Frau war, die die Geschichte
erzählte. (Frauen mit traurigen Geschichten schienen das zu spüren, vielleicht
weil sie sahen, daß Alice selbst eine traurige Geschichte hatte.)
    Saskias Geschichte war eine 2-Männer-Geschichte. Der erste Mann, der
ihr weh tat, war ein Freier, der sie in ihrem Zimmer in der Bloedstraat
anzündete. Er versuchte, ihr Feuerzeugbenzin ins Gesicht zu spritzen, doch es
gelang ihr, Augen und Nase mit dem rechten Unterarm abzuschirmen. Sie trug
schwere Verbrennungen davon, allerdings nur vom Handgelenk bis zum Ellbogen.
Als die Wunde verheilt war, verbarg sie die Narben unter vielen Armreifen. Sie
stand im Eingang des Hauses in der Bloedstraat, streckte den Arm aus und ließ
die Armreifen [140]  klingeln. Das zog die Aufmerksamkeit der Passanten auf sie –
man mußte sie einfach ansehen. Auf diese Weise fand Saskia viele Freier.
    Sie war zu dünn, um als schön gelten zu können, und wenn sie einen
potentiellen Freier anlächelte, öffnete sie nie den Mund, denn ihre Zähne waren
schlecht. »Nur gut, daß Prostituierte nicht küssen müssen«, sagte sie zu Jack,
»denn mich würde keiner küssen wollen.« Sie grinste den Jungen an, so daß er
die abgebrochenen Zähne und Zahnlücken sehen konnte.
    »Vielleicht nicht wenn Jack dabei ist«, warnte Alice sie.
    Mit den klingelnden Armreifen am einen Arm – ihr linker,
unversehrter Arm war ganz nackt – hatte Saskia etwas sehr Verführerisches.
Vielleicht dachten die Männer, sie sei eine Frau, die sich vollkommen
gehenlassen würde. Vielleicht fühlten sie sich auch zu ihr hingezogen, weil sie
spürten, daß sie innerlich schlimmer verletzt worden war als durch die
Verbrennung. Man konnte den Schmerz in ihren Augen brennen sehen wie eine
Flamme.
    Der zweite Mann in Saskias 2-Männer-Geschichte war der Freier, der
sie verprügelt hatte, weil sie die Armreifen nicht ablegen wollte. Er hatte von
der Verbrennung gehört und wollte die Narben sehen. (Damals dachte Jack, das
müsse ein Mann gewesen sein, der des Rates der Prostituierten noch dringender
bedurfte als andere.)
    Saskia schrie so laut, daß vier andere Frauen in der Bloedstraat und
drei, die um die Ecke auf dem Oudezijds Achterburgwal arbeiteten, sie hörten
und ihr zu Hilfe eilten. Sie zerrten den Mann, der so dringend beraten werden
mußte, hinaus auf die Bloedstraat, wo sie mit Kleiderbügeln und einem
Ausgußreiniger auf ihn einschlugen – bis eine von ihnen ihm die Kette am
Abflußstöpsel eines Bidets überzog und ihm eine blutende Wunde beibrachte. Als
die Polizei kam, war er halb weggetreten, brabbelte zusammenhangslos vor sich
hin und brauchte offenbar noch immer Rat.
    [141]  »Und so kam das mit deinen Zähnen?« fragte Jack.
    »Genau«, sagte sie. »Ich zeige meine Brandnarben nur Leuten, die ich
mag. Wollt ihr sie mal sehen?«
    »Klar«, sagte der Junge.
    »Aber nur, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Alice.
    »Es macht mir gar nichts aus.«
    Sie führte sie in ihr kleines Zimmer, schloß die Tür und zog die Vorhänge
zu, als wären Alice und Jack Freier. Jack war erstaunt, wie spärlich das Zimmer
möbliert war: Es gab nur ein Bett und einen Nachttisch. Das Licht der einzigen,
mit einem roten Glasschirm versehenen Lampe war gedämpft. Dem Kleiderschrank
fehlte die Tür; er enthielt hauptsächlich Unterwäsche und eine Peitsche, wie
ein Löwendompteur sie verwenden würde.
    Es gab ein Waschbecken und einen Tisch mit einer weißen
Emailleplatte, der besser in ein Krankenhaus oder eine Arztpraxis gepaßt hätte.
Darauf türmten sich Handtücher. Eines war auf dem Bett ausgebreitet, wohl für
den Fall, daß ein Ratsuchender nasse Kleider trug, dachte Jack. Außer dem Bett
gab es keine Sitzgelegenheit. Jack empfand dies als einen eigenartigen Ort, um
Ratschläge zu erteilen, doch Saskia schien nichts dabei zu finden. Sie setzte
sich auf das Bett und lud Alice und Jack ein, neben ihr Platz zu nehmen.
    Dann nahm sie einen Armreif nach dem anderen ab und reichte sie
Jack. Im roten Schein der Lampe mit dem Glasschirm betrachteten der Junge und
seine Mutter die faltige, wie rohes Fleisch wirkende Haut von Saskias Narbe –
sie sah aus wie ein verbrannter

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