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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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akzeptierte.
    Wieviel Verachtung mochte Femke für Alice empfinden, eine Frau, die
unablässig einem Mann nachjagte, obgleich er sie doch schon vor Jahren von sich
gestoßen hatte? Femkes offensichtliche Verachtung für Kinder erschien Jack
grenzenlos. (Vielleicht interpretierte der Junge Femkes Gefühle seiner Mutter
gegenüber falsch; wahrscheinlich dachte Jack, daß Femke ihn nicht mochte.) Er wollte das Zimmer sofort wieder verlassen, obwohl es im
Vergleich zu den beiden anderen Zimmern von Prostituierten, die er gesehen
hatte, beinahe genauso schön war wie Femke selbst. Und es war auch luxuriös
möbliert.
    Es gab kein Bett, sondern nur ein großes Ledersofa, und Handtücher
waren ebenfalls nirgends zu sehen. Es gab sogar einen Schreibtisch. In der Ecke
am Fenster stand neben einer Leselampe und einem Bücherregal ein bequem
wirkender Ledersessel. Vielleicht saß Femke lesend am Fenster und kümmerte sich
nicht um die potentiellen Freier. Um ihre Aufmerksamkeit [147]  zu erregen, mußten
die Männer schon die Stufen hinuntersteigen und an die Tür oder das Fenster
klopfen. Ob sie dann wohl von ihrem Buch aufsah, verärgert, weil man sie in
ihrer Lektüre unterbrach?
    An den Wänden hingen Bilder – Landschaften, eine mit einer Kuh –,
und auf dem Boden lag ein Orientteppich, der so teuer aussah wie Femke.
Tatsächlich war diese Frau Jacks erste Begegnung mit der unüberwindlichen Macht
des Geldes und dessen Arroganz gegenüber allem anderen.
    »Warum kommen Sie erst jetzt?« sagte sie zu Alice.
    »Können wir jetzt wieder gehen?« fragte Jack. Er streckte die Hand
nach seiner Mutter aus, doch sie nahm sie nicht.
    »Ich weiß, daß Sie mit ihm in Verbindung stehen«, sagte Alice.
    »›…in Verbindung stehen‹«, wiederholte Femke. Sie bewegte die
Hüften, sie befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Ihre Bewegungen waren so
genießerisch wie die einer Frau, die sich nach erholsamem Nachtschlaf morgens
im Bett räkelt, und ihre Kleidung umschmiegte den Körper so wohlig wie ein
warmes Bad. Selbst wenn sie einfach nur dastand oder auf einem Stuhl saß,
schien sie etwas Sinnliches zu haben. Sogar im Tiefschlaf würde Femke aussehen
wie eine Katze, die darauf wartet, gestreichelt zu werden.
    Hatte nicht irgendwer gesagt, Femke bevorzuge – auch aus Gründen der
Sicherheit – Jungfrauen? Ihre Wahl fiel auf junge Burschen. Die Polizei bestand
darauf, daß sie sich von ihnen ein amtliches Dokument zeigen ließ, aus dem ihr
Alter hervorging. Jack vergaß weder sie noch die Angst, die sie ihm eingejagt
hatte.
    Jungfrauen, hatte Alice ihm erklärt, waren unerfahrene junge Männer,
denen noch keine Frau jemals einen Rat gegeben hatte. An jenem Spätnachmittag
in Femkes Zimmer an der Bergstraat verspürte Jack zum ersten Mal das Bedürfnis
nach einem Rat in Hinblick auf Frauen, doch er hatte zuviel Angst, um zu
fragen.
    [148]  » Wenn Sie noch in Verbindung mit ihm
stehen, würden Sie ihm freundlicherweise vielleicht etwas ausrichten«, fuhr
Alice fort.
    »Sehe ich aus, als wäre ich freundlich?«
    »Können wir jetzt wieder gehen?« fragte Jack abermals. Seine Mutter
nahm noch immer nicht seine Hand. Jack sah aus dem Fenster nach einem
vorbeifahrenden Wagen. Draußen waren keine potentiellen Freier.
    Alice sagte etwas, sie klang erregt. »Ein Vater sollte wenigstens
wissen, wie sein Sohn aussieht. «
    »William weiß ganz sicher, wie sein Sohn aussieht«, erwiderte Femke.
Es war, als hätte sie gesagt: »Ich glaube, William hat seinen Sohn schon oft
genug gesehen.« Es war die Art von Information (oder Fehlinformation), die ein
Leben verändern kann. Jedenfalls veränderte sie Jacks Leben. Von diesem Tag an
versuchte er sich vorzustellen, daß sein Vater ihn heimlich beobachtete.
    Hatte William gesehen, wie Jack auf dem Kastelsgraven eingebrochen
war? Hätte der Musikmann ihn gerettet, wenn ihm nicht der kleinste Soldat von
allen zu Hilfe gekommen wäre? Hatte William Jack beobachtet, wie er im Grand
Hotel in Stockholm gefrühstückt hatte? War sein Vater Zeuge gewesen, als Jack
sich beim Sonntagmorgenbüffet im Hotel Bristol in Oslo vollgestopft hatte? Als
er im Hotel Torni in Helsinki im stillgelegten Aufzug über der American Bar
gesessen hatte?
    Und an jenen Samstagen, an denen Jack oft im Fenster des Rode Draak
saß oder vor dem Eingang stand und das geschäftige Treiben auf der Straße
beobachtete, die zahllosen Männer, die durch das Rotlichtviertel streiften –
war da sein Vater ein- oder zweimal in der

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