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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Menge vorbeigeschlendert? Wenn es
stimmte, was Femke sagte, und William tatsächlich wußte, wie sein Sohn aussah –
wie oft hatte Jack ihn dann gesehen, ohne es zu wissen?
    Doch wie hätte er William Burns nicht erkennen können? [149]  Nicht daß William so kühn gewesen wäre, das Hemd
auszuziehen und Jack seine eintätowierten Noten zu zeigen – aber wäre an diesem
Mann nicht etwas Vertrautes gewesen? (Vielleicht die Wimpern, wie einige Frauen
nach einem Blick auf Jacks Gesicht bestätigt hatten.)
    An jenem Tag in Femkes Zimmer an der Bergstraat begann Jack, nach
William Burns Ausschau zu halten. Irgendwie hörte er nie damit auf – und das,
obwohl so wenig dafür sprach, daß sein Vater in der Nähe war. Nur weil eine
Frau, die Jack für eine Prostituierte hielt, die möglicherweise log – und die
auf jeden Fall grausam war –, behauptet hatte, sein Vater habe ihn gesehen.
    Alice widersprach Femke sofort. »Sie
lügt, Jack.«
    »Sie sind diejenige, die lügt. Sie machen sich was vor«, erwiderte
Femke. »Wenn Sie denken, daß William Sie noch immer liebt, dann machen Sie sich
was vor. Und wenn Sie denken, daß er Sie je geliebt hat, dann ist das nur zum
Lachen.«
    »Ich weiß, daß er mich einmal geliebt hat«, sagte Alice.
    »Wenn er Sie wirklich mal geliebt hätte, dann könnte er es nicht
ertragen, zu sehen, wie Sie sich verkaufen«, sagte Femke. »Es würde ihn schier
umbringen, Sie in irgendeinem Fenster oder Hauseingang zu sehen, stimmt’s?
Allerdings nur, sofern ihm noch etwas an Ihnen liegt.«
    »Natürlich liegt ihm etwas an mir!« rief Alice.
    Angenommen, Sie sind vier, und Ihre Mutter hat eine lautstarke
Auseinandersetzung mit einer Fremden. Hören Sie wirklich den Streit? Oder
versuchen Sie so angestrengt, das letzte, was gesagt
wurde, zu verstehen oder zu interpretieren, daß Sie das nächste, was gesagt wird, einfach verpassen, und das, was danach kommt, ebenfalls? Ist
das nicht die Art, wie ein Vierjähriger einen Streit hört oder auch nicht hört?
    »Stellen Sie sich vor, William sieht Sie in einem Hauseingang, wo
Sie dieses Gebet, diesen kleinen Choral singen, den Sie bestimmt kennen«, sagte
Femke. »Wie ging das noch mal? ›Erlöse [150]  mich, du Odem Gottes‹ – so ungefähr?«
Femke erinnerte sich auch an die Melodie und summte sie. »Schottisch, nicht?«
    »Eigentlich anglikanisch«, sagte Alice. »Hat er es Ihnen auch beigebracht?«
    Femke zuckte die Schultern. »Er hat es allen Huren in der Oude Kerk
beigebracht. Er hat es gespielt, und sie haben es gesungen. Ich bin sicher,
Ihnen hat er es auch vorgespielt, und Sie haben es ebenfalls gesungen.«
    »Ich brauche nicht zu beweisen, daß William mich geliebt hat – Ihnen
nicht«, sagte Alice.
    »Was interessiert mich das?« fragte Femke. »Sie müssen es sich
selbst beweisen! Würde es William etwas ausmachen, wenn Sie ein, zwei Freier
empfangen würden? Oder drei, vier? Sofern ihm noch etwas an Ihnen liegt.«
    »Nicht wenn Jack dabei ist«, sagte Alice.
    »Besorgen Sie sich einen Babysitter«, sagte Femke. »Sie haben doch
ein paar Freundinnen im Viertel.«
    »Danke, daß Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte Alice, und nun
endlich nahm sie Jacks Hand.
    Sie verließen die Bergstraat und betraten am Oudekerksplein wieder
das Rotlichtviertel. Es war früher Abend, und die Dämmerung brach herein. Die
Orgel in der Oude Kerk spielte nicht, aber alle Frauen standen in den
Hauseingängen – als wüßten sie, daß Alice und Jack kamen. Anja war eine der
älteren und mal freundlich, mal nicht. Wahrscheinlich war es Anjas freier
Abend, denn sie summte die Melodie von »Erlöse mich, du Odem Gottes«, was etwas
gemein wirkte.
    Es ist keine großartige Melodie – ein Abendmahlsgebet, das nicht
gesprochen, sondern gesungen wird und bei dem die Worte wichtiger sind als die
Musik. Wie viele schlichte Dinge fand Jack die Melodie schön. Es war das
Lieblingslied seiner Mutter.
    Die nächste war Margriet, eine der jüngeren Frauen, die Jack immer
»Jackie« nannte. Diesmal sagte sie gar nichts. Dann [151]  kamen Annelies, die Freche
Frieda, Katja, die Mürrische Anouk, Mistress Mies und die Rote Roos. Sie alle
summten die Melodie. Alice ignorierte sie. Nur die alte Jolanda kannte den Text
dazu.
    »Erlöse mich, du Odem Gottes…«, sang sie.
    »Das tust du nicht, oder?« sagte Jack zu seiner Mutter. »Es ist mir
egal, ob ich ihn jemals sehe«, log er.
    Vielleicht antwortete Alice: » Ich bin
diejenige, die ihn sehen will, Jack.«

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