Bis ich dich finde
keinen
Akt der Unzucht!«
»Das geht vielen Männern so«, sagte Els.
Saskia zuckte die Schultern. »Ich muß sagen, daß ich die meisten
Akte der Unzucht gleich wieder vergesse.«
Sie sahen Jacob Bril nach, der sich, so zielstrebig wie eine Ratte,
durch die Sint Annenstraat entfernte. Die einsame Prostituierte am Ende der
Straße stand nicht mehr vor ihrer Tür – wahrscheinlich hatte sie Bril kommen
sehen.
»Jacob Bril ist für mich ein guter Grund, um Mitternacht nicht mehr
auf der Straße zu sein«, sagte Alice. »Was würde er wohl sagen, wenn er mich in
einem Fenster sitzen sehen oder mich singen hören würde?« Sie lachte jenes
spröde Lachen, das Jack als Wegbereiter für Tränen kannte.
Els oder Saskia sagte: »Es gibt bessere Gründe als Jacob Bril, um
Mitternacht nicht mehr auf der Straße zu sein.«
Sie traten aus der Warmoesstraat auf den Dam und gingen ins
Krasnapolsky. »Was ist Unzucht?« fragte Jack.
»Ratschläge geben«, sagte Alice.
»Meistens gute Ratschläge«, sagte Saskia.
»Jedenfalls nötige Ratschläge«, sagte Els.
»Und was ist Sünde?« fragte Jack.
»Praktisch alles«, sagte Alice.
»Es gibt gute und schlechte Sünden«, sagte Els.
»Tatsächlich?« sagte Saskia. Sie sah genauso verwirrt aus wie Jack.
»Ich meine gute und schlechte Ratschläge«, erklärte Els. Jack hatte
den Eindruck, daß Sünde komplizierter war als Unzucht.
Als sie in das Hotelzimmer traten, sagte Alice: »Mit der Sünde [157] ist es so, Jack: Manche Leute finden sie wahnsinnig wichtig, während andere
nicht mal glauben, daß es sie überhaupt gibt.«
»Und was glaubst du?« wollte Jack wissen. Alice schien zu stolpern,
obgleich Jack nichts sah, worüber sie hätte stolpern können. Sie fiel, aber Els
fing sie auf.
»Verdammte Absätze«, sagte Alice, dabei hatte sie gar keine.
»Hör zu, Jack«, sagte Saskia, »wir haben hier was zu erledigen. Es
ist wichtig, daß deine Mutter die richtigen Sachen anhat. Da können wir uns
nicht durch eine Unterhaltung über etwas so Schwieriges wie Sünde ablenken
lassen.«
»Wir unterhalten uns später darüber«, versicherte Els dem Jungen.
»Das könnt ihr ja tun, wenn ich angefangen habe zu singen –
jedenfalls ohne mich«, sagte Alice. Els steuerte mit ihr auf den Schrank zu.
Saskia wühlte bereits in Alice’ Kommodenschubladen. Sie hielt einen BH hoch, der ihr bestimmt zu groß gewesen wäre –
allerdings nicht annähernd groß genug für Els. Sie sagte etwas auf holländisch,
und Els lachte. »Ihr werdet enttäuscht sein von meinen Sachen«, meinte Alice.
Soweit Jack sich erinnerte, probierte seine Mutter jedes einzelne
Kleid im Schrank an. In seiner Gegenwart war seine Mutter immer sehr schamhaft.
Er bekam sie nie nackt oder auch nur halbnackt zu sehen. Tatsächlich hatte er
in diesen ein, zwei Stunden im Krasnapolsky zum ersten Mal Gelegenheit, sie so
ausgiebig in BH und Slip zu betrachten, und
selbst dabei kreuzte sie die Hände vor der Brust und schirmte den Busen mit
Oberarmen und Ellbogen ab. Jack sah eigentlich mehr von Els und Saskia als von
seiner Mutter, denn die beiden Frauen waren ständig um sie, zogen sie an und
aus und gaben ihr viele gute Ratschläge.
Schließlich einigte man sich auf ein Kleid. Jack fand es hübsch,
aber schlicht. Es war wie seine Mutter: Auch sie war hübsch, aber schlicht, jedenfalls
im Vergleich zu den anderen Frauen im [158] Rotlichtviertel. Das Kleid war schwarz
und ärmellos und recht hochgeschlossen, es paßte ihr gut, war aber nicht zu
eng.
Alice besaß keine Schuhe mit hohen Absätzen. Das Paar, das sie
auswählte, hatte mittelhohe Absätze – sie selbst fand sie hoch. Dann legte sie
ihre Perlenkette an. Sie hatte ihrer Mutter gehört; Bill Stronach hatte sie
seiner Tochter an dem Tag gegeben, als sie von Schottland nach Nova Scotia
aufgebrochen war. Sie glaubte, es seien Zuchtperlen, doch sicher war sie nicht.
Ganz gleich, was für Perlen es waren – die Halskette bedeutete ihr sehr viel.
»Werde ich in einem ärmellosen Kleid nicht frieren?« fragte sie Els
und Saskia. Die Frauen entdeckten im Schrank eine passende schwarze
Strickjacke.
»Zu klein«, widersprach Alice. »Die kann
ich nicht zuknöpfen.«
»Du brauchst sie ja nicht zuzuknöpfen«, sagte Els. »Die soll dir
bloß die Arme warm halten.«
»Du solltest sie offenlassen und die Arme verschränken«, sagte
Saskia und zeigte ihr, was sie meinte. »Es ist sexy, wenn du aussiehst, als
wäre dir ein bißchen kalt.«
»Ich will aber gar
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