Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Halbkreis aufgestellt und sangen laut ein anderes
Lied.
    [161]  Sie ging hinein und schloß die Tür. Sie setzte sich ins Fenster
und sang weiter »Erlöse mich, du Odem Gottes«, auch wenn niemand sie hören
konnte. Els sagte ihnen, sie sollten verschwinden, und alle bis auf einen
stritten mit ihr, als plötzlich Nico Oudejans um die Ecke bog. Als die Burschen
sich nicht schnell genug in Bewegung setzten, schrie er sie an. Da begannen sie
zu rennen. Der eine, der nicht mit Els gestritten hatte, rannte rückwärts – er
konnte den Blick nicht von Alice wenden.
    Nico lächelte Jack zu, der seiner Mutter im Fenster zuwinkte. Sie
sang einfach weiter. »Ich werde öfter mal bei ihr vorbeischauen, Jack – und bei
dir auch«, sagte der Polizist.
    Es wäre tatsächlich leichter gewesen, die Männer hereinzubitten. Sie
waren frustriert, daß hier kein Rat zu haben war; ihre Reaktion reichte von
völliger Verständnislosigkeit bis zu Feindseligkeit. Einige machten nur ein
verlegenes Gesicht und schlichen davon, andere waren verblüfft und aggressiv.
Alice sang einfach weiter und hielt nicht einmal lange genug inne, um das
Schinken-Käse-Croissant zu essen, das Jack und Saskia ihr brachten. Kurz nach
Einbruch der Dunkelheit kam Tatoeërer-Theo vorbei. Er trug einen Korb mit einer
Flasche Wein und etwas Obst und Käse, aber Alice wollte nichts davon. Sie
umarmte Rademaker und gab ihm einen Kuß, dann winkte sie Els und Jack herbei
und reichte ihnen den Korb. Natürlich gingen sie damit zu Saskia, die immer
Hunger hatte.
    Auch Robbie de Wit ließ sich sehen. Beim Anblick von Alice, die in
Saskias Fenster saß und lautlos sang, machte er ein tieftrauriges Gesicht. Er
hatte ihr ein paar Joints mitgebracht, die sie dankend annahm. Als sie sich
wieder vor die Tür stellte, zündete sie einen an und rauchte ihn beim Singen.
    Es dauerte noch Jahre, bis Jack imstande war, die gedankliche
Verbindung herzustellen: daß es eine jener Nächte war, über die Bob Dylan einen
phantastischen Song geschrieben hätte.
    [162]  Gegen zehn Uhr, als im Rotlichtviertel großer Betrieb
herrschte, begleiteten Els, Saskia und Jack Alice von Saskias Zimmer am
Bloedstraat zu Els’ Zimmer am Stoofsteeg. Els trug Jack; der Junge schlief
beinahe und hatte den Kopf auf ihre Schulter gelegt. Wenn sie von einem Zimmer
zum anderen wechselte, sang Alice nicht. »Glaubt ihr, daß William jemals kommen
wird?« fragte sie.
    »Das hab ich sowieso nie geglaubt«, sagte Saskia.
    »Laß gut sein, Alice«, sagte Els. Sie schloß die Tür zu ihrem Zimmer
auf, und Alice stellte sich davor auf die Straße. Sie wollte eben anfangen zu
singen, als sie Femke kommen sah.
    »Sie singen ja gar nicht«, sagte Femke.
    »Er wird nicht kommen, oder?« sagte Alice.
    Saskia und Els stürzten sich auf Femke – sie waren wütend und
machten kein Hehl daraus. Jack wachte auf, verstand aber kein Wort, denn sie
sprachen holländisch. Femke blieb ihnen nichts schuldig. Els und Saskia schrien
zurück. Jack dachte schon, Els würde Femke zu Boden stoßen, auf das Pflaster
des Stoofsteegs, doch sie hörten auf zu schreien, als Alice zu singen begann.
Jack hatte sie »Erlöse mich, du Odem Gottes« nie besser singen hören. Femke
schien überwältigt von ihrer Stimme. Vielleicht sagte sie: »Ich hätte nicht
gedacht, daß Sie das wirklich tun würden.« Alice sang weiter, vielleicht ein
wenig lauter als zuvor. Aber Jack war so schlaftrunken, daß er glaubte, Femke
habe möglicherweise gesagt: »Ich hätte nie gedacht, daß er darauf eingehen
würde.«
    Soweit Jack es verstand, spielte sein Vater Klavier auf einem Kreuzfahrtschiff
– oder ging es um jemand anders? Das Klavier schien Alice zu überraschen; dabei
fangen die meisten Organisten mit diesem Instrument an – bei William jedenfalls
war es so gewesen. Vielleicht bestand die Überraschung auch darin, daß William nach
Australien wollte und vorhatte, sich von Cindy Ray tätowieren zu lassen.
    [163]  Alice sang weiter, aber einen anderen Choral; sie achtete nicht
mehr auf Kleinigkeiten wie Punktierung oder die Tatsache, daß William
möglicherweise bereits unterwegs war. »O Heiland, reiß die Himmel auf«, sang
sie. (Sie wiederholte immer nur diese eine Zeile.)
    Hoffte William, Australien sei so weit entfernt, daß Alice und Jack
ihm nicht dorthin folgen würden? Jack schlief an Els’ großem weichen Busen ein.
Alice sang noch mal einen anderen Choral und schien nicht aufhören zu wollen.
»Ein großer Trost mein Heiland ist«,

Weitere Kostenlose Bücher