Bis ich dich finde
sang sie immer wieder. Der Klang ihrer
reinen Stimme verfolgte Femke, bis sie um die Ecke des Stoofsteegs gebogen war
und Alice wieder mit »Erlöse mich, du Odem Gottes« begonnen hatte. Jack wachte
auf.
»Du kannst jetzt aufhören, Alice«, sagte Saskia, doch Alice hörte
nicht auf.
»Wo ist Australien?« fragte Jack Els. (Er wußte nur, daß Australien
nicht auf ihrer Route lag.)
»Keine Sorge, Jack – ihr fahrt nicht nach Australien«, sagte Saskia.
»Es liegt auf der anderen Seite der Welt«, sagte Els. Bei dem
Gedanken, daß sein Vater auf der anderen Seite der Welt war, fühlte sich der
Junge schon besser; trotzdem stellte er sich immer wieder vor, sein Vater stehe
irgendwo in einer Menschenmenge und beobachte ihn.
»Komm, Alice – es ist Zeit aufzuhören«, sagte Saskia.
»O Heiland, reiß die Himmel auf«, begann Alice. Es klang ein wenig
tonlos.
Sie hatten Femke nachgesehen und nicht bemerkt, daß Jacob Bril sich
näherte. Es war noch nicht Mitternacht, doch Bril war im Stoofsteeg. Er stand
wie angewurzelt da und steigerte sich in eine religiöse Wut hinein. »Das ist
ein Choral, den du da singst– ein Gebet !« schrie er
Alice an.
Sie blickte ihn an und sang: »Ein großer Trost mein [164] Heiland ist.«
(In ihrer Geistesverfassung waren diese drei Choräle – oder ihre Titel –
vielleicht die einzigen, an die sie sich erinnerte.)
»Blasphemie!« schrie Bril.
»Gotteslästerung!«
Saskia sagte etwas auf holländisch zu ihm; es klang nicht sehr
religiös. Els ging auf ihn zu und gab ihm einen Schubs. Er fiel auf ein Knie,
konnte den Sturz jedoch mit dem Handballen abfangen. Als er sich aufrichtete,
stieß Els ihn noch einmal. Er blieb auf den Beinen, taumelte aber gegen die
Hauswand. »Nicht wenn Jack dabei ist«, sagte Els ruhig. Sie machte einen
Schritt auf ihn zu, doch Bril wich zurück.
»Wo ist Nico, wenn man ihn braucht?« sagte Saskia, doch das war
nicht ernstgemeint. Els schien Nicos Hilfe keineswegs zu benötigen.
Alice begann wieder mit »Erlöse mich, du Odem Gottes«. In diesem
Augenblick sahen sie ihn, den Burschen, der nicht mit Els gestritten hatte und
rückwärts aus der Gasse gelaufen war. Er war gekommen, um Alice noch einmal
anzuschauen. Diesmal war er allein. Els sagte etwas auf holländisch zu ihm. Nun,
da Bril sich zurückzog, schien sie den Burschen verjagen zu wollen.
»Laß ihn. Er war der einzige nette«, sagte Alice zu Els. Sie hatte
endlich aufgehört zu singen und lächelte den Burschen an, der hilflos vor ihr
stand. »Er sieht aus, als bräuchte er einen Rat, findet ihr nicht?« sagte
Alice.
»Das mußt du nicht, Alice«, sagte Saskia.
»Aber er sieht aus, als bräuchte er einen Rat«, erwiderte Alice.
»Den können Saskia oder ich ihm geben«, sagte Els.
»Ich glaube, er will meinen Rat«, sagte
Alice.
»Laß gut sein«, wiederholte Els.
»Möchtest du reinkommen?« fragte Alice den Jungen. Er machte ein
Gesicht, als verstehe er kein Englisch. Els übersetzte es ihm, und er nickte.
»Komm, Jack«, sagte Saskia und nahm seine Hand. »Ich [165] könnte jetzt
ein Schinken-Käse-Croissant vertragen. Wie sieht’s mit dir aus?«
Der Bursche, der einen Rat brauchte, hatte einen dunklen Teint und
sehr dunkles, kurzgeschnittenes Haar, er war zierlich und hatte große Augen,
und seine Gesichtszüge waren so fein wie die eines Mädchens. Seit er hineingebeten
worden war, hatte er sich nicht gerührt – er stand einfach nur da. Er hatte
Alice nur noch einmal sehen wollen; niemals wäre er auf den Gedanken gekommen,
er könnte den Mut haben, sie anzusprechen, oder auch nur eine zweite
Gelegenheit dazu bekommen – das heißt, wenn er sie beim ersten Mal überhaupt
angesprochen hatte. (Er sah aus, als hätte er zuviel Angst gehabt;
wahrscheinlich hatten seine Freunde, die Schreihälse, Alice angesprochen.)
Els trat hinter ihn und schob ihn zu Alice, die seine Hand nahm und
ihn ins Zimmer zog. Er ging ihr gerade bis zum Kinn. Als Alice die Tür
geschlossen und die Vorhänge zugezogen hatte, schloß Els sich Saskia und Jack
an. »Ist er eine Jungfrau?« fragte Jack.
»Eindeutig«, sagte Els.
Jack fiel ein, was Nico Oudejans im Polizeirevier zu seiner Mutter
gesagt hatte. »Ist er eine zu junge Jungfrau?«
»Um diese Uhrzeit ist keiner zu jung«, sagte Saskia.
Jack hatte den halben Nachmittag und Abend geschlafen – erst etwa
eine Stunde in Els’ Zimmer, dann in Saskias Zimmer, und natürlich in Els’
Armen, wenn sie ihn dahin und dorthin trug –, aber
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