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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nicht sexy aussehen«, sagte Alice.
    »Was ist sexy?« fragte Jack.
    »Wenn man sexy aussieht, denken die Männer, daß man ihnen gute
Ratschläge geben kann«, erklärte Els. Die beiden Prostituierten machten sich an
Alice’ Frisur zu schaffen, und dann war da noch die Frage des Lippenstifts und
des Make-ups.
    »Ich will keinen Lippenstift, und ich will kein Make-up«, sagte
Alice, aber davon wollten sie nichts hören.
    »Du brauchst ein bißchen Lippenstift, glaub mir«, sagte Els.
    »Einen dunklen«, sagte Saskia. »Und
Lidschatten.«
    »Ich hasse Lidschatten!« rief Alice.
    »Du willst doch nicht, daß William dir in die Augen sieht und dein
eigentliches Ich erkennt, oder?« sagte Els. »Nur mal angenommen, er taucht
tatsächlich auf.« Alice verstummte. Sie ließ zu, daß die beiden Frauen sie
schminkten.
    [159]  Jack sah bei der Verwandlung zu. Die Konturen im Gesicht seiner
Mutter waren schärfer, der Mund hatte einen kühneren Schwung. Das Seltsamste
aber war der Schatten über ihren Augen, der sie aussehen ließ, als wäre jemand,
der ihr nahestand, gestorben und als hielte sie diesen Tod vor Jack geheim.
Alles in allem wirkte seine Mutter ein ganzes Stück älter.
    »Und? Wie sehe ich aus?« fragte Alice.
    »Umwerfend«, sagte Saskia.
    »Es wird keinen Auflauf geben, sondern eine Volksmenge«, sagte Els,
doch diese Aussicht schien Alice nicht zu begeistern.
    »Wie findest du mich, Jackie?« fragte sie.
    »Du siehst sehr schön aus«, sagte er, »aber eigentlich nicht wie
meine Mama.« Das schien sie zu beunruhigen.
    »Für mich siehst du wie Alice aus«, versicherte ihr Saskia.
    »Ja, genau«, sagte Els. »Wir haben sie nur ein bißchen
geheimnisvoller gemacht, Jack.«
    »Und was ist das Geheimnis?« wollte Alice wissen.
    »Els meint, daß wir dich ein bißchen verbergen mußten«, sagte
Saskia.
    »Wir mußten die Mama in ihr verbergen, Jack«, sagte Els.
    »Denn die ist nur für dich da«, fügte Saskia hinzu und fuhr ihm
durchs Haar.
    »Wird schon gutgehen«, sagte Alice. Sie wendete sich vom Spiegel ab
und sah sich nicht um.
    Viele Touristen wissen gar nicht, wie klein das Amsterdamer
Rotlichtviertel eigentlich ist. Es gibt darin so viele winzige Gassen – in
denen zu Spitzenzeiten ein regelrechtes Gedränge herrscht –, daß Besucher, die
zum ersten Mal dort sind, sich in diesem Labyrinth verlaufen und glauben, daß
die Straßen mit den Fenstern voller Prostituierter nie ein Ende nehmen. Dabei
könnte man bequem in zehn Minuten vom einen Ende des Viertels zum anderen
spazieren, von der Damstraat bis zum Zeedijk. [160]  Von der Oude Kerk bis zu
Saskias Zimmer in der Bloedstraat oder Els’ Zimmer am Stoofsteeg brauchte man
nicht einmal fünf Minuten.
    An einem Samstagnachmittag verbreitete sich die Nachricht, eine Neue
sei aufgetaucht, besonders schnell: Eine Frau, die gar nicht wie eine
Prostituierte aussah und etwas sang, das sich wie ein Kirchenlied anhörte,
stand teils am Stoofsteeg, teils in der Bloedstraat. Die Neuigkeit sprach sich
im Nu herum. Noch bevor es dunkel wurde, hakten die älteren Frauen am
Oudekerksplein einander unter und kamen, um mit eigenen Ohren zu hören, wie
Tochter Alice sang. Anja kam mit Annelies und der Frechen Frieda, Katja kam mit
der Mürrischen Anouk und Mistress Mies. Etwas später erschien die Rote Roos mit
der alten Jolanda. Die alten Prostituierten sagten nichts und blieben nicht
lange. Sie hatten gedacht, Alice würde sich blamieren, aber eine hübsche Frau
mit einer hübschen Stimme blamiert sich nur selten.
    Für die Männer, die durch diese Straßen streiften, klang Alice’
Gesang vielleicht so verführerisch wie das Klimpern der Reifen an Saskias
verbranntem Arm, doch Alice wies alle zurück. Sie war eine Frau, die wie eine
Prostituierte vor einem Eingang stand oder in einem Fenster saß, doch bei jedem
potentiellen Freier, der sich für sie interessierte, schüttelte sie den Kopf.
Gelegentlich mußte sie ihren Gesang unterbrechen und mit Entschiedenheit »Nein«
sagen. Einmal, als sie vor Els’ Eingang stand, sah sie sich gezwungen, einem
besonders hartnäckigen Mann zu sagen, sie warte auf ihren Freund und fürchte,
ihn zu verpassen, wenn sie sich mit einem Freier zurückziehe. (Saskia
übersetzte es ihm ins Niederländische, und schließlich ging der Mann weiter.)
Und als sie vor Saskias Eingang stand, wurde sie von ein paar jungen Männern
belästigt. Sie hatte wohl einen oder alle zurückgewiesen, und um sich dafür zu
rächen, hatten sie sich im

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