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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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erklang wieder die Phantasie von Bach.
    »Es ist dieser Donker, stimmt’s?« fragte Alice. Sie nickten. »Er
spielt wie ein Orgelstimmer«, sagte Alice.
    Die Phantasie in G-Dur verfolgte sie über den Trompetterssteeg
hinaus, wo einige junge Prostituierte sich noch immer anboten. Erst als sie
beinahe das Ende der Sint Annenstraat erreicht hatten, hörten sie die Musik
endlich nicht mehr.
    »Du fährst doch nicht nach Australien, oder?« fragte Els vielleicht.
    »Nein, die Reise wäre zu lang und anstrengend für Jack«, antwortete
seine Mutter möglicherweise.
    »Zu lang und anstrengend für jeden«, sagte Saskia.
    »Wahrscheinlich«, sagte Alice nur. Sie sprach ungewöhnlich
undeutlich, und seit Jack in dem Zimmer an der Bloedstraat vom Geflüster der
Frauen aufgewacht war, hatte ihr Gesichtsausdruck etwas ungewöhnlich
Verträumtes und Unbekümmertes. Später würde Jack annehmen, daß das eine Folge
der zahlreichen Joints gewesen war, die seine Mutter geraucht hatte, denn bis
Amsterdam hatten Alice und Marihuana einander kaum gekannt. An diesem
Samstagabend und Sonntagmorgen aber waren die beiden unzertrennlich.
    Saskia und Els begleiteten sie bis zum Hotel – nicht weil sie
fanden, das Rotlichtviertel sei ein unsicheres Pflaster, sondern weil sie verhindern
wollten, daß Alice Jacob Bril in die Arme lief. Sie wußten, daß Bril ebenfalls
im Krasnapolsky abgestiegen war.
    Nachdem die Frauen Alice und Jack umarmt und geküßt [169]  hatten,
machten er und seine Mutter sich bereit, zu Bett zu gehen. Es war das erste
Mal, daß sie vor ihm das Badezimmer benutzte. Irgend etwas schien sie dort
drinnen zu amüsieren, denn sie begann zu lachen.
    »Was ist so komisch?«
    »Ich glaube, ich habe meine Unterwäsche in Els’ Zimmer vergessen.«
    Das Erteilen von Ratschlägen hatte sie offenbar abgelenkt –, und als
Jack seine Zähne geputzt hatte, war sie bereits eingeschlafen. Jack schaltete
alle Lichter bis auf das im Badezimmer aus und ließ die Badezimmertür angelehnt
–, das war ihre Version eines Nachtlichts. Soweit er sich erinnerte, war seine
Mutter noch nie vor ihm eingeschlafen. Er legte sich neben sie ins Bett, doch
selbst im Schlaf sang sie weiter. Jack war froh, daß es kein Choral war. Und
vielleicht hatte das Marihuana Alice’ schottischen Akzent wieder zum Leben
erweckt, denn Jack hörte ihn in Zukunft nur noch, wenn sie betrunken oder
bekifft war.
    Was das Lied betraf, so konnte Jack nicht wissen, daß es ein echtes
Volkslied war – entweder eines, an das seine Mutter sich aus ihrer Kindheit
erinnerte, oder (wahrscheinlicher) ein Lied, das sie sich selbst ausgedacht und
im Schlaf mit einer Melodie versehen hatte. (Warum auch nicht? Schließlich
hatte sie den halben Tag und die halbe Nacht gesungen.)
    Dies ist das Lied, das Alice im Schlaf sang:
     
    Nie werd’ ich eure Süße
Für ’nen schnöden kleinen Schein,
Und schlimmer als am Dock Place
Kann’s nur im Kittchen sein.
Nie werd’ ich eure Kleine sein,
Und nie am Dock Place steh’n,
Ihr sollt mich nicht im Kittchen
Und nicht als Hure seh’n.
    [170]  Jack dachte, es sei vielleicht ein Schlaflied, mit dem ihn
seine Mutter in den Schlaf singen wollte, obwohl sie selbst schon schlief.
    Jack sprach wie immer das Nachtgebet mit geschlossenen Augen. Er
sprach ein bißchen lauter als sonst, denn seine Mutter schlief, und er mußte
für sie beide beten. »Der Tag, den Du gegeben, Herr, ist vorüber. Wir danken
Dir dafür.«
    Sie schliefen bis Sonntag mittag. Dann fragte er sie: »Was ist eine
Hure?«
    »Habe ich im Schlaf gesprochen?« fragte Alice.
    »Ja. Du hast gesungen.«
    »Eine Hure ist eine Prostituierte, eine Ratgeberin, Jackie.«
    »Und was ist mit ›Süße‹ und ›Kleine‹?«
    »Das sind Wörter für ›Ratgeberin‹.«
    »Aha.«
    Sie gingen Hand in Hand durch das Rotlichtviertel zu
Tatoeërer-Pieters Studio, als Jack sie fragte: »Was ist eigentlich Dock Place?«
    »Ein Ort, wo ich nie sein möchte«, sagte sie.
    »Wie hat Tatoeërer-Pieter sein Bein verloren?« fragte Jack zum
hundertsten Mal.
    »Ich habe dir doch gesagt, du sollst ihn
selbst fragen.«
    »Vielleicht beim Fahrradfahren«, sagte Jack.
    Es war früher Nachmittag, und die meisten Frauen boten bereits ihre
Ratschläge an. Alle begrüßten Alice und Jack mit Namen, auch die älteren
Prostituierten aus der Umgebung der Oude Kerk. Alice legte Wert darauf, um den
ganzen Oudekerksplein zu gehen; halb so schnell wie Jacob Bril schritten sie an
jedem Fenster, jeder Tür vorbei.

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