Bis ich dich finde
Oastler – sie war zwölf und ging stark auf die
achtzehn zu. Als sie den Schlag für Jack öffnete, glaubte er, bei dem Hauch
eines Schnurrbarts auf ihrer Oberlippe handele es sich um Schweiß. Die Haare
auf ihren kräftigen, gebräunten Unterarmen waren von der Sommersonne gebleicht,
und ein dicker, dunkelbrauner Zopf fiel über ihre Schulter und bildete einen
Kontrast zu ihrem beinahe hübschen Gesicht. Er reichte ihr bis zum Nabel und
trennte und akzentuierte ihre noch unentwickelten Brüste. Etwa ein Viertel der
Sechstkläßlerinnen hatten schon erkennbare Brüste.
Als Jack ausgestiegen war und neben Emma stand, ging er ihr bis zur
Taille. »Stolper nicht über deine Krawatte, Süßer«, sagte Emma. Die Krawatte
reichte ihm bis zu den Knien, doch bis zu Emmas Warnung hatte er die Möglichkeit,
er könnte darauf treten, nicht in Erwägung gezogen. Und aus den grauen
Bermudashorts war Jack herausgewachsen: Sie waren, wie Mrs. Wicksteed [179] festgestellt hatte, zu kurz, um »angemessen« zu sein. (Im Gegensatz zu den
Mädchen trugen die Jungen kurze Socken.)
Emma legte recht grob die Hand unter sein Kinn und musterte ihn
prüfend. »Laß mal deine Wimpern sehen, Zuckerbär – ach, du liebe Zeit!« rief
sie.
»Was?«
»Das wird Probleme geben!« sagte Emma Oastler. Jack blickte
forschend in ihr Gesicht und sah ebenfalls Probleme. Er bemerkte auch, daß er
sich bezüglich des Schnurrbarts geirrt hatte. Von nahem konnte man den zarten
Flaum auf Emmas Oberlippe kaum mit Schweißperlen verwechseln. Jack war fünf und
wußte noch nicht, daß junge Frauen empfindlich reagieren, wenn es um ihre
Schnurrbärte geht. Dieser Schnurrbart sah jedenfalls so aus, als wäre es gut,
einen zu haben; natürlich wollte Jack ihn berühren.
Der erste Schultag ist – wie die erste Tätowierung – ein Wendepunkt
im Leben, und das galt auch für Jack. Und Emma Oastlers Schnurrbart zu berühren
würde bestimmt zur Bildung seines Charakters beitragen. »Wie heißt du?« fragte
Emma und beugte sich weiter hinunter.
»Jack.«
»Jack wie?«
Einen schrecklichen Augenblick lang ließ ihn ihre bepelzte Oberlippe
seinen Nachnamen vergessen. Aber er zögerte nicht nur wegen des Schnurrbarts.
Er war auf den Namen Jack Stronach getauft worden. Sein Vater hatte ihn
verlassen, ohne seine Mutter zu heiraten, und daher sah Alice keinen Grund,
warum einer von ihnen Williams Namen tragen sollte. Mrs. Wicksteed dagegen war
anderer Meinung. Während Alice darauf bestand, nicht Mrs. Burns zu sein, fand Mrs. Wicksteed, kein Kind solle unter seiner
unehelichen Geburt zu leiden haben. Auf ihr Betreiben wurde Jacks Name
gerichtlich geändert, so daß er nun, wenn auch nur dem Namen nach, ein
eheliches Kind war. [180] Außerdem war Mrs. Wicksteed eine Verfechterin der
Assimilation; ihrer Meinung nach würde die kanadische Gesellschaft einen Jack
Burns bereitwilliger aufnehmen als einen Jack Stronach. Zweifellos war sie
überzeugt, dem Jungen einen Gefallen zu tun.
Doch Jacks Zögern, Emma Oastler seinen Nachnamen zu nennen, war von
einer Lehrerin bemerkt worden, und zwar von der, die man die Frau in Grau
nannte. Mrs. McQuat war eine gespenstische Gestalt. Sie hatte die Kunst des
urplötzlichen Erscheinens gemeistert, niemand sah sie jemals kommen. Vielleicht
war sie in ihrem letzten Leben eine Tote gewesen. Wie anders war die Kühle zu
erklären, die sie stets umgab? Selbst ihr Atem war kalt.
»Was gibt es hier?« fragte Mrs. McQuat.
»Einen Jack Soundso«, antwortete Emma. »Er hat den Rest seines
Namens vergessen.«
»Ich bin sicher… du kannst ihn… dazu bewegen, sich daran… zu
erinnern«, sagte Mrs. McQuat. Sie schien Atemprobleme zu haben.
Obwohl die Frau in Grau keine Asiatin war, hatte sie Schlitzaugen,
weil ihr Haar ganz straff nach hinten gebürstet und zu einem festen stahlgrauen
Knoten gebunden war. Im Gegensatz zu Emmas Lippen, die gewöhnlich geöffnet
waren, wirkten die ihren wie versiegelt. Emmas Mund war wie eine erblühte
Blume, und der Schnurrbart auf ihrer Oberlippe war so fein wie Puder – wie
Pollenstaub auf einem Blütenblatt.
Jack versuchte, seine rechte Hand und insbesondere den Zeigefinger
im Zaum zu halten. So schnell Mrs. McQuat erschienen war, so schnell verschwand
sie wieder – aber vielleicht hatte Jack in seinem Bemühen, Emmas Schnurrbart
nicht zu berühren, auch nur die Augen zugekniffen und den Abgang der Frau in
Grau verpaßt.
»Denk nach, Jack.« Emma Oastlers Atem war so warm, wie [181]
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