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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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 Mrs.
McQuats Atem kalt war. »Wie ist dein ganzer Name? Na komm, du kannst das.«
    »Jack Burns«, stieß der Junge flüsternd hervor.
    War es sein Name oder sein Finger, der sie überraschte? Vielleicht
beides. Daß er seinen Namen in genau dem Augenblick sagte, in dem er mit dem
Zeigefinger über ihre flaumige Oberlippe strich, war ganz und gar
unbeabsichtigt. Die unglaubliche Zartheit ihrer Lippe ließ ihn flüstern: »Und
wie heißt du?«
    Sie packte seinen Finger und bog ihn nach hinten. Jack fiel auf die
Knie und schrie vor Schmerz. Die Frau in Grau hatte einen weiteren ihrer
charakteristischen Auftritte. »Ich sagte dazu bewegen… Emma, nicht ihn foltern «, sagte sie ermahnend.
    »Emma wie?« fragte Jack das große Mädchen, das dabei war, ihm den
Finger zu brechen.
    »Emma Oastler«, sagte sie und gab seinem Finger einen kleinen
Extraruck, bevor sie ihn losließ. »Vergiß ihn bloß nicht.«
    Emma oder ihren Namen zu vergessen war unmöglich. Selbst der
Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte, erschien Jack natürlich – als wäre er dazu
geboren, ihr zu dienen, oder sie dazu, ihn zu führen. Vielleicht konnte Mrs.
McQuat das seinem schmerzverzerrten Gesicht ansehen. Erst viel später wurde ihm
bewußt, daß die Frau in Grau zweifellos bereits in St. Hilda gewesen war, als
Jacks Vater mit einer Elftkläßlerin geschlafen und ein Mädchen aus der
dreizehnten Klasse geschwängert hatte. Warum sonst hätte sie ihn fragen sollen:
»Bist du nicht… der Sohn von William Burns?«
    Das ließ Emmas Interesse an Jacks Wimpern im Nu wieder aufleben.
»Dann bist du also der Sohn der Tätowiererin!« rief
sie.
    »Ja«, sagte Jack. (Und dabei hatte er befürchtet, daß niemand ihn
kennen würde.)
    Eine weitere Lehrerin musterte die Neuankömmlinge, und Jack erkannte
ihre perfekte Stimme, als hätte er sie Nacht für Nacht im Traum gehört: Es war
Miss Caroline Wurtz, die seine [182]  Mutter von ihrem schottischen Akzent befreit
hatte. Nicht nur an ihrer Intonation und Artikulation, sondern auch an ihrer
Stimmlage wäre sie überall zu erkennen gewesen – besonders in Jacks Träumen.
Miss Wurtz kam aus Edmonton und hätte dort ohne Einschränkung als Schönheit
gegolten, doch in einer internationaleren Stadt wie Toronto wirkte ihre
zerbrechliche Hübschheit eher vergänglich. (Wahrscheinlich hatte sie eine
schwere persönliche Enttäuschung erlebt: eine unerwiderte Liebe oder eine
Begegnung, die zu rasch vorüber gewesen war.)
    »Richte deiner Mutter bitte viele Grüße aus, Jack«, sagte Miss
Wurtz.
    »Ja, danke, das werde ich«, sagte Jack.
    »Die Tätowiererin hat eine Limousine ?«
fragte Emma.
    »Das sind Mrs. Wicksteeds Wagen und Fahrer, Emma«, sagte Miss Wurtz.
    Und wieder war die Frau in Grau fort – Mrs. McQuat war einfach
verschwunden. Jack spürte auf der Schulter Emmas Hand, die ihn führte, er
spürte ihre Hüfte, die seine Wange streifte. Sie beugte sich zu ihm und
flüsterte ihm ins Ohr; was sie sagte, war nicht für Miss Wurtz bestimmt. »Muß
schön sein für deine Mutter und dich, Zuckerbär.« Jack dachte, sie meine den
Lincoln Town Car oder Peewee, aber daß Mrs. Wicksteed die Tätowiererin und
ihren Bastard unter ihre Fittiche genommen hatte, war eine Geschichte, die
bereits vor Jacks erstem Schultag Einlaß in St. Hilda gefunden hatte. Emma
Oastler meinte damit, daß Mrs. Wicksteed in einem weit umfassenderen Sinne
Alice’ Gönnerin war. Auch das nächste, was sie sagte, verstand Jack falsch:
»Gratuliere, Jack. Nicht jeder hat das Glück, Gratismieter zu sein.«
    »Danke«, sagte Jack und griff nach ihrer Hand. Er war froh, schon am
ersten Schultag eine Freundin gefunden zu haben. Da Mrs. Wicksteeds geschiedene
Tochter ihn und Alice ebenfalls als Gratismieter bezeichnet hatte, fragte er
sich, ob Emmas Mutter [183]  vielleicht geschieden war. Möglicherweise hatten
solche Frauen besonders viel Verständnis dafür, daß eine Ehemalige wie Mrs.
Wicksteed Alice und Jack unterstützte.
    »Ist deine Mutter geschieden?« fragte er Emma. Leider hatte Emmas
Mutter einen über Jahre hinweg erbittert geführten Scheidungskampf hinter sich,
und mindestens eine Folge davon war so atemberaubend häßlich, daß sie sich
immer nur als Mrs. Oastler vorstellte. Für Emma war
das Thema noch immer so schmerzhaft wie eine offene Wunde.
    Emma drückte Jacks Hand, was er als Geste der Intimität und des
unausgesprochenen Einverständnisses abermals mißverstand. Er war sicher, daß
sie ihm nicht weh tun wollte,

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