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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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arbeitete,
war es Lottie, die morgens mit Jack aufstand und ihm das Frühstück machte. Auch
Mrs. Wicksteed war rechtzeitig auf den Beinen, um dem Jungen, wenn auch ein
wenig geistesabwesend, die Krawatte zu binden. Lottie legte ihm abends die
Kleider zurecht und half ihm an Schultagen beim Anziehen.
    Jack ging ins halbdunkle Zimmer seiner Mutter und küßte sie zum
Abschied, und dann ging Lottie mit ihm zur Ecke Padina und Lowther Street, wo
Peewee mit dem Town Car wartete. Zu Alice’ Ehrenrettung sei gesagt, daß sie
ihrem Sohn anbot, ihn am ersten Schultag zu begleiten.
    »Alice«, sagte Mrs. Wicksteed, »wenn Sie Jack zur Schule bringen,
geben Sie ihm Anlaß zum Weinen.«
    Mrs. Wicksteed war strikt dagegen, Jack Anlaß zum Weinen zu geben.
Eines Morgens sagte sie, während sie ihm die Krawatte band: »Sie werden dich
ärgern, Jack. Das ist kein Anlaß zum Weinen. Weine nur, wenn du körperlich
verletzt wirst – dann aber so laut, wie du nur kannst.«
    »Aber was soll ich machen, wenn sie mich ärgern?« fragte Jack.
    Mrs. Wicksteed trug einen pflaumenfarbenen Morgenmantel über einem
längsgestreiften Pyjama ihres verstorbenen Mannes. Sie band Jacks Krawatte
immer am Küchentisch, wo sie ihre steifen Finger an der ersten Tasse Tee des
Tages wärmte. Ihr weißes Haar war auf Lockenwickler gedreht, und ihr Gesicht
glänzte von Avocado-Öl.
    »Laß dir was einfallen«, sagte sie.
    »Wenn sie mich ärgern?«
    »Sei nett«, schlug Lottie vor.
    »Sei zweimal nett«, sagte Mrs. Wicksteed.
    »Und beim dritten Mal?« fragte Jack.
    »Laß dir was einfallen«, sagte sie noch einmal.
    Wenn die Krawatte gebunden war, gab Mrs. Wicksteed ihm [177]  einen Kuß
auf die Stirn und auf die Nase. Lottie wischte ihm das Avocado-Öl ab. Auch sie
gab Jack einen Kuß – meist in der Eingangshalle, bevor sie die Haustür öffnete,
ihn an die Hand nahm und zu Peewee brachte.
    Lotties Hinken, das für Jack auf beinahe ebenso verstörende Weise
interessant war wie Tatoeërer-Pieters fehlendes Bein, war ein häufiges Thema
von Gesprächen zwischen ihm und seiner Mutter. »Warum hinkt Lottie?« fragte er
sie sicher hundertmal.
    »Frag sie selbst.«
    Doch an seinem ersten Schultag hatte Jack noch immer nicht den Mut
aufgebracht, sein Kindermädchen zu fragen, warum sie hinkte.
    »Wieso hinkt die Lady eigentlich, Mann?« fragte Peewee ihn im Wagen.
    »Ich weiß nicht. Warum fragst du sie
nicht, Peewee?«
    »Nein, du mußt sie fragen. Du bist hier
der Herr des Hauses, Mann, ich bin bloß der Fahrer.«
    Später glaubte Jack Burns, er werde die Ecke Pickthall und Hutchings
Hill Road noch auf dem Totenbett vor sich sehen: wie Peewee den Wagen auf
Schrittempo abbremste, wie die älteren Mädchen mit skeptischen Blicken
registrierten, daß wieder einmal eine dicke Limousine mit einem Kind reicher
Eltern vorfuhr. Es war ein warmer Septembermorgen; wieder sah Jack die über die
Röcke hängenden Schöße der Matrosenblusen und die lose gebundenen, grau und
kastanienbraun gestreiften Krawatten. (In zwei Jahren würden alle Mädchen
Button-down-Hemden tragen, den obersten Knopf geöffnet.) Doch am deutlichsten
erinnerte er sich an den rebellischen Schwung ihrer Hüften.
    Die Mädchen standen niemals still: Manchmal umarmten sie einander,
manchmal verlagerten sie ihr Gewicht auf den einen Fuß und klopften mit dem
anderen einen Rhythmus, und wenn sie sich setzten, schlugen sie die Beine
übereinander und wippten mit dem oberen. Die extreme Kürze der grauen
Faltenröcke [178]  lenkte Jacks Aufmerksamkeit auf ihre Beine und die überraschende
Schwere der Oberschenkel. Die Mädchen zupften an ihren Fingern, Fingernägeln
und Ringen, sie strichen sich über Augenbrauen und Haare. Sie sahen unter ihre Nägel, als suchten sie dort nach Geheimnissen –
sie schienen zahlreiche Geheimnisse zu haben. Unter Freundinnen gab es geheime
Handzeichen und andere Gebärden, die verborgene Bedeutungen zu haben schienen.
    Am Eingang an der Rosseter Road, wo Peewee anhielt, kamen Jack die
Sechstkläßlerinnen besonders heimlichtuerisch und dabei ungezwungen vor. Mit
elf, zwölf Jahren glauben Mädchen, daß sie schrecklich aussehen. Sie sind,
jedenfalls in ihren eigenen Augen, keine Kinder mehr, aber auch noch nicht
annähernd erwachsen. In diesem Alter gibt es zwischen Mädchen große
Unterschiede: Manche wirken und bewegen sich schon wie junge Frauen, andere
haben knabenhafte Körper und bewegen sich eher, als wären sie schüchterne junge
Männer.
    Nicht so Emma

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