Bis ich dich finde
Niemand summte »Erlöse mich, du Odem Gottes«.
Sie gingen zum Sint Olofssteeg und verabschiedeten sich von
Tatoeërer-Pieter. »Alice, du kannst jederzeit bei mir arbeiten«, sagte der
einbeinige Mann zu ihr. »Sieh zu, daß du deine beiden [171] Beine behältst,
Junge«, sagte Pieter zu Jack. »Das macht das Laufen leichter.«
Dann spazierten sie den Zeedijk entlang, um Tatoeërer-Theo und
Robbie de Wit adieu zu sagen. Robbie wollte von Alice tätowiert werden. »Nicht
noch ein gebrochenes Herz«, sagte sie. »Ich hab genug von Herzen, egal ob
gebrochen oder nicht.« Robbie begnügte sich schließlich mit ihrer Signatur auf
seinem rechten Oberarm.
Tochter Alice
Rademaker war so beeindruckt von dem gestochen scharfen
Schriftzug, daß er ebenfalls eine Signatur wollte. Er bekam sie auf den linken
Unterarm, auf eine Stelle, die er, wie er sagte, für etwas Besonderes
reserviert hatte. Sie reichte von der Armbeuge bis zu seiner Armbanduhr, so daß
er jedesmal, wenn er auf die Uhr sah, an Tochter Alice erinnert wurde.
»Na, was meinst du, Jack?« fragte Tatoeërer-Theo. »Sollen wir uns
was von dem Zimmerman anhören?« (Er wußte nicht, wie man diesen Namen auf
deutsch ausspricht. Jack wußte es ebenfalls nicht – noch nicht.)
Jack nahm eine Dylan-Platte und legte sie auf. Bald sang Robbie mit,
doch es war nicht Alice’ Lieblingssong. Sie tätowierte einfach weiter und
überließ das Singen Bob und Robbie.
»When the rooster crows at the break of dawn«, sangen Bob und Robbie, »look out your window and I’ll be
gone.« Alice begann gerade mit dem A von Alice. »You’re
the reason I’m travellin’ on«, sangen Bob und Robbie, »don’t think twice, it’s all right.«
Nichts war all right, nichts war in
Ordnung, nicht einmal annähernd, aber Alice tätowierte einfach weiter.
[172] Els ging mit ihnen zum Reedereibüro, einem verwirrenden Ort.
Sie wollten eine Überfahrt buchen und waren auf Els’ Hilfe angewiesen. Sie
würden mit dem Zug nach Rotterdam und auf einem Schiff nach Montreal fahren,
von dort ging es dann weiter nach Toronto.
»Warum Toronto?« fragte Saskia. »Kanada ist nicht dein Heimatland.«
»Jetzt schon«, sagte Alice. »Ich werde nie in das sonnige Leith
zurückkehren – nicht für allen Whisky in Schottland.« Sie wollte nicht sagen,
warum. (Vielleicht warteten dort zu viele Gespenster.) »Außerdem habe ich die
ideale Schule für Jack gefunden. Eine gute Schule«, hörte Jack sie zu Els und
Saskia sagen. Sie beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Und bei den
Mädchen bist du in Sicherheit.«
Bei dem Gedanken an die Mädchen von St. Hilda – besonders die älteren
– überlief es Jack. Und wieder einmal (und zum letzten Mal in Europa) griff er
nach der Hand seiner Mutter.
[173] II
DAS MEER VON MÄDCHEN
[175] 8
In Sicherheit
Jack hatte den Eindruck, daß die älteren Mädchen in St.
Hilda etwas gegen Jungen an ihrer Schule hatten. Obwohl diese nur die ersten
vier Klassen besuchen durften, galten sie – selbst die ganz kleinen – als
schlechter Einfluß. Laut Emma Oastler: »Besonders auf die älteren Mädchen.«
Emma war ein sowohl bedrohliches als auch älteres Mädchen. Die Sechstkläßlerinnen
waren die ältesten Schülerinnen der Junior School; sie öffneten und schlossen
am Eingang an der Rosseter Road die Türen der Wagen, aus denen die Kleinen
stiegen. Als Jack 1970 – dem ersten Jahr, in dem in St. Hilda Jungen zugelassen
waren – in die Vorschule kam, war Emma in der sechsten Klasse. Er war fünf, sie
war zwölf. (Wegen familiärer Probleme war sie ein Jahr lang nicht zur Schule
gegangen.) An seinem ersten Schultag war es Emma, die ihm den Wagenschlag
öffnete – ein prägendes Erlebnis.
Jack war der Wagen ohnehin peinlich: ein schwarzer Lincoln Town Car
eines Limousinenservice, den Mrs. Wicksteed für all ihre Fahrten in Anspruch
nahm. (Weder Mrs. Wicksteed noch Lottie fuhren selbst, und Alice hatte nie
einen Führerschein besessen.) Der Fahrer war ein freundlicher Jamaikaner, ein
großer, dicker Mann namens Peewee, beinahe so schwarz wie der Wagen. Er war
Mrs. Wicksteeds bevorzugter Fahrer.
Gibt es ein Kind, das an seinem ersten Schultag in einer Limousine
mit Chauffeur vorfahren will? Doch Alice war mit Mrs. Wicksteeds Art, Dinge zu
erledigen, nicht schlecht gefahren. Wie es schien, bezahlte ihre Förderin nicht
nur Jacks Schulgeld, sondern auch die Limousine.
[176] Weil Alice oft bis spät nachts im Studio des Chinesen
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