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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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auch wenn ihr Griff so eisern war wie der des
Empfangschefs im Hotel Bristol. »Bist du Norwegerin?« fragte er Emma, doch sie
schnaufte so laut, daß sie ihn nicht hörte. Ihre noch jungen Brüste hoben und
senkten sich – entweder, weil sie so angestrengt versuchte, dem Jungen die Hand
zu zerquetschen, oder, weil sie sich bemühte, ihre Verachtung für das
männerhassende Ungeheuer zu verbergen, in das ihre Mutter sich nach der
Scheidung verwandelt hatte. Eine Träne, die Jack zunächst für einen
Schweißtropfen hielt, rann über ihre Wange und hing an ihrem Schnurrbart wie
ein Tautropfen an jungem Moos. Mit einemmal lösten sich Jacks Befürchtungen in
Hinblick auf die Schule in Luft auf. Was für eine großartige Idee,
Sechstkläßlerinnen als Tutorinnen der Vorschüler einzusetzen!
    Auf der Eingangstreppe stolperte er, aber Emma zerrte nicht nur an
seiner Hand, um den Sturz aufzufangen, sondern zog ihn sogar hoch, klemmte ihn
gegen ihre Hüfte und trug ihn über die Schwelle. Überwältigt von Dankbarkeit
und Zuneigung schlang er die Arme um sie, und sie erwiderte die Umarmung so
heftig, daß er in ihrer warmen Halsbeuge zu ersticken glaubte. Es heißt, daß
Menschen, die der Ohnmacht nahe sind, Erscheinungen haben, und das erklärt
vielleicht, warum Jack die Frau in Grau [184]  zunächst für eine solche Erscheinung
hielt. Mrs. McQuat war wieder da – genau in dem Augenblick, als Emma Oastler im
Begriff war, ihm das Genick zu brechen oder ihn an ihrem noch ziemlich flachen
Busen zu ersticken.
    »Laß ihn los, Emma«, sagte die Frau in Grau. Jacks Hemd hing über
der Hose und bis zu seinen Knien, wenn auch nicht so weit wie seine Krawatte.
Ihm war schwindlig, und er schnappte nach Luft. »Hilf ihm, das Hemd… in die
Hose zu stecken… Emma«, sagte die Frau in Grau. Kaum hatte sie zu Ende
gesprochen, da war sie auch schon wieder verschwunden, zurückgekehrt in die
Welt der Geister.
    Wenn sie kniete, war Emmas Kopf auf einer Höhe mit dem Jacks. Seine
grauen Bermudashorts waren nicht nur zu kurz, sondern auch zu eng. Emma mußte
den Knopf am Hosenbund und den Reißverschluß öffnen, um das Hemd hineinstecken
zu können. Sie schob ihre Hände unter den Stoff, legte sie auf seinen Hintern
und drückte leicht zu. »Hübscher Po«, flüsterte sie.
    Jack war soweit zu Atem gekommen, daß er dieses Kompliment
zurückgeben konnte. »Hübscher Schnurrbart«, sagte er – und zementierte damit
die Freundschaft, die während seiner Jahre in St. Hilda und darüber hinaus
Bestand haben sollte. Jack dachte, es müsse tatsächlich eine gute Schule sein,
wie seine Mutter gesagt hatte, und diese aufregende erste Begegnung mit Emma
Oastler, deutete (zumindest in seinen Augen) darauf hin, daß er bei den Mädchen
wirklich in Sicherheit sein würde.
    »Ach, Jack«, flüsterte Emma ihm ins Ohr und streifte dabei mit ihrer
unglaublich zarten Oberlippe seinen Hals, »wir werden eine wunderschöne Zeit
miteinander haben.«
    Die Bogenportale im Korridor der Junior School ließen Jack an
den Himmel denken. (Wenn es im Himmel so etwas wie einen Eingang gab, dann
mußte er wohl so aussehen, dachte er.) Und die schwarz-grauen Dreiecke des
Linoleumbodens gaben ihm [185]  das Gefühl, daß die Schule und das
Erwachsenenleben, das danach kam, ein Spiel waren – ein Spiel, das er zwar noch
nicht kannte, aber dennoch ein Spiel.
    Ein anderes Spiel war die Aussicht auf den Schulhof durch das
winzige, zerbrochene Fenster der Toilette im ersten Stock – es war die einzige
Jungentoilette in St. Hilda. Die Milchglasscheiben waren klein und wurden von
schwarzen Eisensprossen gehalten. Eine der Scheiben war zerbrochen und wurde
während der fünf Jahre, die Jack dort zur Schule ging, nie ersetzt. Im ersten
Jahr waren die Pinkelbecken für ihn noch zu hoch: Er mußte auf Zehenspitzen
stehen und in die Höhe zielen.
    In diesem Korridor im ersten Stock kam es zu unregelmäßigen, aber
furchterregenden Begegnungen mit jenen älteren Mädchen, die
Internatsschülerinnen waren; einer der Wege zu ihrem Trakt führte durch den
Korridor der Junior School. Die Mädchen wurden erst ab der siebten Klasse in
das Internat aufgenommen, und sie machten unter den fünfhundert Schülerinnen
der Middle und Senior School nie mehr als ein Fünftel aus. (St. Hilda war eine
Stadtschule – die meisten Schülerinnen wohnten zu Hause.)
    Die älteren Internatsschülerinnen erschienen Jack viel älter. Ihr spürbarer Mißmut war allgemein spürbar und
beschränkte sich

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