Bis ich dich finde
sie
auf der Bühne eine so entschiedene Verfechterin »maßvoller Zurückhaltung»!)
Das war Jacks erster Klassenausflug. Wie vieles andere in seiner
Grundschulzeit wäre auch dieser Zwischenfall halb so schlimm gewesen, wäre Jack
nicht schon in der ersten Klasse auf das, was ihn erwartete, vorbereitet
worden, und zwar von Emma [198] Oastler, der Geschichtenerzählerin, die sich zu
seiner persönlichen Führerin ernannt hatte.
Ach, was für ein Glückspilz! Kein Zweifel: Bei den Mädchen war er in
Sicherheit.
[199] 9
Nicht alt genug
Als
Jack in die erste Klasse kam, waren Emma und ihre Freundinnen in die Middle
School aufgerückt. Sie gingen jetzt in die siebte Klasse. Die Tutorinnen für
die neuen Vorschüler waren weniger beängstigende Mädchen, an die Jack sich
später nicht erinnerte. Manchmal verging ein ganzer Schultag – nur selten waren
es zwei hintereinander –, ohne daß er Emma sah. Sie hatte ihm hoch und heilig
versprochen, daß sie immer in Verbindung bleiben würden. Gelegentlich sah er
auch Wendy Holton und Charlotte Barford, meist aus sicherer Entfernung. (Wendy
war für ihn »Steinfäuste«, und an Charlotte und ihre melonengroßen Knie dachte
er nur als »Knochenbrüste-Barford«.)
Miss Wong, Jacks Lehrerin in der ersten Klasse, war während eines
Hurrikans auf den Bermudas zur Welt gekommen. In ihrem Leben gab es nichts, was
entfernt an einen tropischen Wirbelsturm erinnerte, obgleich ihre Angewohnheit,
sich für alles und jedes zu entschuldigen, vielleicht schon mit jenem Ereignis
begonnen hatte. Sie nannte den Sturm, der während ihrer Geburt getobt hatte,
nie beim Namen, und das hätte die Erstkläßler vielleicht auf den Gedanken
bringen können, daß dieser noch immer irgendwo tief in ihrem Unbewußten wütete.
Doch ihren schwunglosen Körper beseelte keine Spur eines Sturms, und ihrer
Stimme fehlte jeder Nachdruck. »Es tut mir leid, euch sagen zu müssen, daß der
Hauptunterschied zwischen Vorschule und erster Klasse darin besteht, daß wir
keine Mittagsruhe halten«, verkündete Miss Wong am ersten Tag.
Ihre Entschuldigung wurde mit allgemeinen Seufzern der Erleichterung
und einigen spontanen Dankbarkeitsbekundungen [200] begrüßt: Fersentrommeln der
French-Zwillinge, identische Dek-kennuckelgeräusche von den Booth-Zwillingen,
inbrünstiges Stöhnen von Jimmy Bacon. Diese Reaktion der Schülerinnen und
Schüler der ersten Klasse auf die Nachricht, daß die Zeiten der Mittagsruhe vorbei
waren, rief in »Miss Bahamas«, wie die Lehrerin hinter ihrem Rücken genannt
wurde, keinen Sturm der Neugier hervor – auch dies ein Indiz für die
Leblosigkeit ihrer neuen Lehrerin.
Während eines der Gottesdienste der Junior School, die einmal pro
Woche stattfanden und die täglichen Versammlungen in der Aula ersetzten,
flüsterte Maureen Yap Jack zu: »Fehlen dir Emma Oastlers Einschlafgeschichten
nicht manchmal?« Sofort hatte Jack einen Kloß im Hals; er konnte weder singen
noch sich mit The Yap, wie die Kinder Maureen nannten, unterhalten. »Ich weiß
genau, wie du dich fühlst«, fuhr The Yap fort. »Aber was war am schlimmsten?
Was fehlt dir am meisten?«
»Alles«, stieß Jack hervor.
»Uns allen fehlen sie«, sagte Caroline French.
»Uns allen fehlt alles«, korrigierte sie ihr nervender Bruder.
»Halt’s Maul, Gordon«, zischte Caroline.
»Mir fehlt das Stöhnen«, gestand Jimmy Bacon. Die Booth-Zwillinge
hatten zwar keine Decken, machten aber identische Nuckelgeräusche.
Sehnten sich die Kinder nach Geschichten von geschiedenen Vätern,
die ohnmächtig wurden, weil sie zuviel Sex hatten? Sehnten sie sich danach,
wieder einmal hilflos den Fledermäusen in der Fledermaushöhle des Royal Ontario
Museum ausgesetzt zu sein? Fehlten ihnen die Geschichten von alleinerziehenden
Müttern und ihren übergroßen, sexhungrigen Liebhaberinnen und Liebhabern? Oder
war es Emma Oastler, die ihnen fehlte? Emma und ihre Freundinnen, die auf der
Schwelle zur Pubertät standen oder sich bereits in ihren Fängen befanden: Wendy
»Steinfäuste« Holton und Charlotte »Knochenbrüste« Barford.
[201] In der ersten Klasse gab es eine neue Schülerin, Lucinda
Fleming. Sie litt an etwas, was Miss Wong als »stille Wut« bezeichnete und was
sich darin manifestierte, daß das Mädchen sich selbst Verletzungen zufügte. Als
Miss Wong der Klasse davon erzählte, sprach sie, als wäre Lucinda gar nicht
anwesend.
»Wir müssen ein Auge auf Lucinda haben«, sagte Miss Wong. Lucinda
ertrug ruhig
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