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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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die Blicke der Klasse. »Wenn ihr seht, daß sie einen scharfen oder
gefährlich wirkenden Gegenstand in der Hand hat, solltet ihr nicht zögern, es
mir zu sagen. Und wenn es so aussieht, als wolle sie sich absondern – nun, auch
das könnte gefährlich für sie sein. Entschuldige, wenn ich etwas Falsches sage,
Lucinda, aber das ist doch das, was wir tun sollten, nicht?« fragte Miss Wong
das stille Mädchen.
    »Von mir aus«, sagte Lucinda heiter lächelnd. Sie war groß und dünn
und hatte blaue Augen und die Angewohnheit, mit einer Strähne ihres
gespenstisch weißblonden Haares über ihre Zähne zu reiben, als wäre es
Zahnseide. Sie hatte einen dicken Pferdeschwanz.
    Caroline French wollte wissen, ob diese Angewohnheit gefährlich für
Lucinda oder ihre Zähne sei. Sie meinte damit, daß dieses Reiben vielleicht ein
erstes Anzeichen jener stillen Wut sei, ein Auftakt für weit problematischere
Verhaltensweisen.
    »Es tut mir leid, dir widersprechen zu müssen, aber das glaube ich
nicht, Caroline«, antwortete Miss Wong. »Du versuchst doch nicht, dir mit
deinen Haaren oder Zähnen weh zu tun, oder, Lucinda?«
    »Im Augenblick nicht«, murmelte Lucinda. Sie hatte eine Haarsträhne
im Mund.
    »Ich finde, es sieht nicht gefährlich aus«, sagte Maureen Yap. (Auch
The Yap lutschte manchmal an einer Haarsträhne.)
    »Ja, aber es ist fies«, sagte Heather Booth.
    »Ja«, sagte Patsy, ihre Zwillingsschwester.
    Jack fand, es sei vielleicht ganz gut, daß Lucinda Fleming neu [202]  in
der Klasse war und nicht die Vorschule in St. Hilda besucht hatte. Wer konnte
sagen, wie Emma Oastler sich auf Lucindas Neigung zu stiller Wut ausgewirkt
hätte? Lucinda kaute auf ihren Haaren und erklärte Jack, ihre Mutter sei von
einem Außeriridischen geschwängert worden, und ihr Vater stamme von außerhalb
unserer Galaxis. Obgleich er erst sechs war, schloß Jack daraus, daß ihre
Mutter geschieden war. Ganz gleich, mit welchem Ende – Emma Oastlers Geschichte
vom gequetschten Kind hätte Lucinda Fleming in eine Wut gestürzt, die größer
gewesen wäre als all ihre bisherige.
    Jack Burns vermied es, den sogenannten Hof zu betreten, selbst
im Frühjahr, wenn die Kirschbäume blühten. Die Fenster der Musikräume im
Erdgeschoß gingen auf den Hof, und von draußen konnte man den Klavierunterricht
hören. Jack stellte sich manchmal vor, daß sein Vater noch immer in einem
dieser Räume unterrichtete. Er haßte es, diese Musik zu hören.
    Und die weißen, kugelförmigen Lampen im Eßsaal erinnerten ihn an
unbedruckte Globusse: keine Länder, keine Grenzen, ja nicht einmal die Konturen
von Kontinenten. Wie die Welt, in der sein Vater verschwunden war: William
Burns hätte ebensogut von außerhalb unserer Galaxis stammen können.
    Jack achtete sehr lange sorgfältig auf Anzeichen für Lucinda
Flemings stille Wut, konnte aber nie welche entdecken. Er fragte sich, ob er
die Symptome erkennen würde, ob auch er hin und wieder eine solche Wut gehabt
hatte, ohne zu wissen, was das war. Wer kannte sich mit Wut aus? (Gewiß nicht
Miss Wong, die es offenbar geschafft hatte, die Verbindung zu dem Wirbelsturm
in sich zu kappen.)
    Jack war es nicht gewohnt, seine Mutter so selten zu sehen; er ging
zur Schule, bevor sie aufgestanden war, und schlief schon, wenn sie heimkam.
Wenn Alice eine Wut hatte, so fand diese ihren Ausdruck vielleicht in den
Nadeln, mit denen sie so viele [203]  Menschen – die meisten davon Männer –
schmerzhaft und bis an ihr Lebensende zeichnete.
    Mrs. Wicksteed, die Jack so geduldig und geistesabwesend die
Krawatte band, blieb bei ihrer Sei-zweimal-nett-Strategie, ohne dem Jungen je
zu verraten, was er beim dritten Mal tun sollte. Die Aufforderung, er solle
sich etwas einfallen lassen, war ein, wie Jack fand, sehr allgemein gehaltener
Rat, enthielt aber weder stille noch sonstwie geartete Wut. Und Lottie hatte
zwar ein Kind verloren, aber alle Wut, die sie je besessen hatte, war auf
Prince Edward Island geblieben – das jedenfalls war es, was sie Jack zu
verstehen gab.
    »Ich bin kein wütender Mensch mehr, Jack«, sagte sie, als er sie
fragte, was sie über Wut im allgemeinen und die stille Wut im besonderen wisse.
»Der beste Rat, den ich dir geben kann, ist, ihr nicht nachzugeben.«
    Später glaubte Jack, daß Lottie eine jener weder jungen noch alten
Frauen war, deren Sexualität nie stark entwickelt gewesen war. Nur noch kleine
Spuren von Begehren waren zu erkennen, zum Beispiel in der Art, wie sie ihr
Profil im

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