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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Spiegel betrachtete, und nur in unbewachten Augenblicken bekam Jack
einen Eindruck von Lotties früherer Schönheit – etwa, wenn er einen Alptraum
gehabt hatte und sie aus tiefem Schlaf weckte oder wenn sie morgens, bevor sie
sich zurechtgemacht hatte, in sein Zimmer kam.
    Anstatt Lucinda Fleming zu bitten, ihm von ihrer stillen Wut zu
erzählen – was für einen Sechsjährigen eine viel zu einfache und direkte
Vorgehensweise gewesen wäre –, nahm Jack seinen Mut zusammen und beschloß, Emma
Oastler zu fragen. (Wenn Emma keine Wutspezialistin war, wer dann?) Doch Jack
hatte Angst vor Emma; für den Anfang erschien es ihm sicherer, sich an ihre
Freundinnen zu wenden – als Probelauf sozusagen. Er fragte zunächst Wendy, denn
sie war die kleinere von beiden.
    Die Mittagspause der Junior School begann eine halbe Stunde [204]  früher als die der Senior School. Wie passend, daß Jack Wendy unter den
weißen Kugeln der Eßsaallampen, diesen unbedruckten Globussen, ansprach. Wie
gut (und wie lange!) konnte er sich an ihren flackernden Blick erinnern, an
ihre zerkauten Lippen und das ungekämmte, dunkelblonde Haar – nicht zu
vergessen die zerschrammten Knie, so hart wie Steinfäuste.
    » Was für eine Wut war das?«
    »Stille.«
    »Was soll damit sein, du kleiner Scheißer?«
    »Na ja, was ist das eigentlich – stille Wut?« fragte er.
    »Du ißt doch wohl nicht das Hundefleisch, oder?« Wendy musterte
mißbilligend seinen Teller.
    »Nein, das würde ich nie tun«, sagte Jack und trennte mit der Gabel
das graue Fleisch und die beigen Kartoffeln.
    »Du willst also ein bißchen Wut sehen?«
    »Ja, ich glaube schon«, sagte er vorsichtig, ohne sie aus den Augen
zu lassen. Wendy hatte die enervierende Angewohnheit, ihre Knöchel knacken zu
lassen, indem sie sie gegen ihre unentwickelte Brust drückte.
    »Wir treffen uns auf der Toilette«, sagte Wendy.
    »Der Mädchentoilette ?«
    »Ich laß mich doch nicht mit dir auf der Jungentoilette erwischen,
Schlappschwanz.« Jack wollte sich die Sache überlegen, doch solange Wendy neben
dem Tisch stand, konnte er nicht klar denken. Auch das Wort »Schlappschwanz«
wirkte beunruhigend, so vollkommen fehl am Platz in einer Mädchenschule.
    »Entschuldigt, daß ich euch unterbreche, aber ißt du nicht zu
Mittag, Wendy?« fragte Miss Wong.
    »Lieber verhungere ich«, erwiderte Wendy.
    »Oh, es tut mir leid, das zu hören!« sagte Miss Wong.
    »Kommst du jetzt, oder bist du ein Feigling ?«
flüsterte Wendy Jack ins Ohr. Er spürte eines ihrer harten, zerschrammten Knie
an den Rippen.
    [205]  »Na gut«, sagte er.
    Offiziell brauchte Jack Miss Wongs Erlaubnis, um den Eßsaal zu
verlassen, doch Miss Wong war, wie meist, auf eine Entschuldigung eingestimmt
(immerhin hatte sie versucht, Wendy Holton ein Mittagessen aufzuzwingen, obwohl
die »lieber verhungern« wollte). »Miss Wong –«, begann er.
    »Ja, natürlich, Jack«, unterbrach sie ihn. »Es tut mir so leid, wenn ich dich in Verlegenheit gebracht habe. Entschuldige,
daß ich dich aufhalte. Du hast bestimmt einen guten Grund, den Eßsaal zu
verlassen. Du liebe Zeit, laß dich nur nicht von mir aufhalten!«
    »Ich bin gleich wieder da«, war alles, was er herausbrachte.
    »Ganz bestimmt, Jack«, sagte Miss Wong. Vielleicht war der schwache
innere Wirbelsturm von ihrer Zerknirschung besiegt worden.
    In der Mädchentoilette, die dem Eßsaal am nächsten lag, zog Wendy
Holton Jack in eine Kabine und stellte ihn auf die Kloschüssel. Sie packte ihn
einfach unter den Armen und hob ihn hoch. Jetzt war sein Kopf auf derselben
Höhe wie ihrer. Für den Fall, daß er abrutschte, hielt Wendy ihn an den Hüften
fest.
    »Du willst Wut spüren, innere Wut?«
    »Stille, hab ich gesagt. Stille Wut.«
    »Ist doch egal, Zitterpimmel.«
    Das war eine Vorstellung, die Jack viele Jahre lang nicht mehr
loslassen würde: Zitterpimmel! Eine zutiefst
verstörende Vorstellung!
    »Fühl mal«, sagte Wendy, nahm seine Hände und legte sie auf ihre
Brüste – oder vielmehr: auf ihre Nicht-Brüste.
    »Was denn?« fragte er.
    »Sei kein Schlappschwanz, Jack – du
weißt schon, was das ist.«
    »Das ist Wut?« fragte der Junge. Das, was er da unter seinen kleinen
Händen spürte, konnte man auf keinen Fall als Brüste bezeichnen.
    [206]  »Ich bin die einzige in der siebten Klasse, die keine hat!« rief
Wendy kochend. Ja, das war nun zweifellos Wut.
    »Aha.«
    »Mehr fällt dir dazu nicht ein?« fragte sie.
    »Tut mir leid«, sagte Jack rasch. (Das

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