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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Vorschüler
in der Fledermaushöhle brachte sie endgültig an den Rand eines Nervenzusammenbruchs.
Da die meisten der Kinder viel zu verängstigt waren, um einzuschlafen, wußten
sie wohl, daß sie nicht den Atem von Fledermäusen, sondern von Emma Oastler,
Wendy Holton und Charlotte Barford spürten. Dennoch taten sie, was man ihnen
gesagt hatte. Die Kinder, die den Atem am Bauch spürten, rührten sich nicht. Im
Zuge der vielen Wiederholungen der Geschichte lernte Jack die gar nicht so
feinen Unterschiede zwischen Charlottes, Wendys und Emmas Zungen kennen. Sie
waren nicht rauh, und daher waren die Verletzungen
der Kinder – abgesehen von späteren Alpträumen – eher geringfügig. Auf den Atem
der Vampirfledermaus an ihrem Hals reagierten die Kinder mit der gewünschten
Heftigkeit: Sie drehten regelrecht durch, schützten die Kehle mit den [191]  Händen
und schrien wie am Spieß, während sie mit den Armen fuchtelten.
    »Zeit zum Aufwachen, Jack«, sagte Emma (oder Charlotte oder Wendy).
Dabei hatte er gar nicht geschlafen.
    Charlotte Barford war, wie Emma, ein großes Mädchen, eigentlich
schon eine Frau im Körper einer Sechstkläßlerin. Wendy Holton dagegen wirkte
ungezähmt und angriffslustig. Wenn man die dunklen Ringe unter ihren Augen
übersah, die auf pubertätstypische Probleme hindeuteten, hätte man sie für neun
halten können. Die Tatsache, daß sie kleiner war und eine kindlichere Statur
hatte, wirkte sich nicht auf ihre Zungenfertigkeit aus. Als Flughund war sie
aggressiver als Emma und drang tiefer vor als Charlotte. (Passend zu ihren
melonengroßen Knien hatte Charlotte Barford eine Zunge, die so breit und dick
war, daß sie nicht in Jacks Nabel paßte – nicht einmal die Spitze.)
    Hatte Miss Sinclair beim Nachmittagsunterricht jemals den Eindruck,
ihre Klasse sei ausgeruht und erfrischt? Glaubte sie, die Kinder seien so wach,
weil sie so erholt seien? Sie waren natürlich erleichtert, und das sah man
ihnen zweifellos an. Daß es ihnen wieder einmal gelungen war, eine von Emma
Oastlers Einschlafgeschichten zu überleben, und zwar sowohl die Passagen, wo
sie auf keinen Fall einschlafen durften, als auch das Ende, wo sie stets auf
kreative Art und Weise »geweckt« wurden, verlieh ihren Gesichtern einen
Ausdruck tiefer Dankbarkeit.
    Ein anderer Klassiker und starker Rivale der Geschichte von den
verlassenen Kindern in der Fledermaushöhle des Royal Ontario Museum war die
Geschichte vom gequetschten Kind. Diese Geschichte hatte verschiedene Enden,
doch sie begann so, wie Emmas Geschichten immer begannen: »Es war ein mieser
Tag, und du bist sehr müde.«
    Jack lag zwischen Gordon und Caroline French, den Zwillingen, die
man trennen mußte, weil sie einander so sehr [192]  verabscheuten. Heather und
Patsy Booth dagegen, die beiden anderen – eineiigen – Zwillinge in Mrs. Wurtz’
Klasse, ertrugen es nicht, getrennt zu sein. Wenn eine von beiden krank war,
blieb auch die andere zu Hause, um ihre Schwester zu bemitleiden oder ebenfalls
krank zu werden. Die Booth-Zwillinge ließen ihre Matten überlappen und krochen
zusammen unter eine Decke – möglicherweise eine Beschwörung ihres leider
beendeten Aufenthalts im selben Bauch.
    Bei der Geschichte vom gequetschten Kind gerieten beide
Zwillingspaare in Erregung, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Die
Booth-Mädchen nuckelten an ihrer gemeinsamen Decke und gaben ein leichtes
Schmatzen von sich, was wiederum Jimmy Bacon so verstörte, daß er zu stöhnen begann.
Die Erregung von Gordon und Caroline French, zwischen denen Jack lag, war mehr
körperlicher Natur und äußerte sich anfallartig in heftigen, scheinbar
sinnlosen Bewegungen. Unter ihren Decken trommelten die French-Zwillinge mit
den Fersen auf die Gummimatten, asynchron und mit steifen Beinen, und das war
zwar eigenartig, doch noch viel irritierender war es, wenn sie damit aufhörten.
Sie taten das so abrupt, daß es war, als wären sie trotz ihrer erzwungenen
Trennung an einer gemeinsamen Krankheit gestorben.
    Die drei möglichen Enden von Emma Oastlers Geschichte vom
gequetschten Kind schlugen die Kinder in ihren Bann. »Für drei von euch«,
begann Emma, »wird dieser miese Tag immer mieser.« Unvermitteltes
Fersentrommeln der French-Zwillinge, gefolgt von seinem ebenso unvermittelten
Ersterben; schmatzende Deckennuckelgeräusche von den Booth-Zwillingen;
erbärmliches Stöhnen von Jimmy Bacon. »Einer von euch übernachtet bei seinem
geschiedenen Vater«, fuhr Emma fort. »Er ist

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