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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Lockenwickler trug, von Avocado-Öl
glänzte und sich lediglich mit einer Tasse Tee gestärkt hatte –, und ein
Gespräch mit Lottie erschien ihm nicht ratsam. Ihre vergangene Mühsal, das nie
angesprochene Hinken und das Leben, das sie auf Prince Edward Island
zurückgelassen hatte, machten sie ungeeignet für belastende Gespräche jeglicher
Art. Die Antwort seiner Mutter kannte er natürlich bereits. »Darüber sprechen
wir, wenn du alt genug bist«, sagte sie gern. Bestimmte Themen gehörten in
dieselbe Kategorie wie die erste Tätowierung, für die man laut Alice ebenfalls alt genug sein mußte.
    Aber Jack kannte jemanden, der alt genug war. Als er unter der alles
verzeihenden Aufsicht der wetterlosen Miss Wong durch die erste Klasse trieb,
war Emma Oastler in der siebten Klasse, eine Dreizehnjährige, die auf die
Zwanzig zuging. Bei Gesprächen [209]  mit Emma gab es keine Beschränkungen. Die
Frage war nur, wie sauer sie gerade war. (Sie würde stinkwütend auf ihn sein,
weil er zuerst mit Wendy und Charlotte gesprochen hatte.)
    Nun durfte man aus diesen Korridor-Hinterhalten und
Toiletten-Überfällen, aus dem Benehmen der älteren Schülerinnen außerhalb des
Unterrichts, nicht die falschen Schlüsse ziehen. St. Hilda war eine gute
Schule, die hohe Anforderungen stellte. Vielleicht schufen diese hohen
Anforderungen bei den älteren Mädchen das Bedürfnis, sich aufzulehnen; sie
mußten sich auf eine Art ausdrücken, die in Widerspruch zu jener korrekten
Intonation und Artikulation stand, für die Miss Wurtz – übrigens keineswegs als
einzige in dem hervorragenden Lehrerkollegium – so entschieden eintrat. Die
Mädchen brauchten eine eigene Sprache: Korridorslang und Toilettengrammatik.
Darum hörte man dort so oft »willste, kannste, machste« – das war die Sprache,
in der die älteren Mädchen miteinander und mit Jack redeten. Wenn sie sich im
Unterricht so ausgedrückt hätten, wären sie sofort zurechtgewiesen worden, und
zwar nicht nur von Miss Wurtz.
    Ganz im Gegensatz zu Peewee, Mrs. Wicksteeds jamaikanischem Fahrer.
Peewee war nicht in der Position, die Art und Weise zu kritisieren, wie Emma
Oastler im Fond des Town Car mit Jack sprach. Übrigens waren sowohl Peewee als
auch Jack überrascht, als Emma in den Wagen stieg. Sie wohnte in Forest Hill
und ging zu Fuß zur Schule und nach Hause. Sowohl in der Middle als auch in der
Senior School hing Emma nach dem Unterricht mit ein paar Freundinnen in einem
Café an der Ecke Spadina Road und Lonsdale Street herum. Allerdings nicht an
diesem bestimmten Tag, und das lag nicht an Kälte und Regen.
    »Du brauchst jemanden, der dir bei den Hausaufgaben hilft, Jack«,
verkündete Emma. (Jack war in der ersten Klasse. Hausaufgaben gab es erst in
der zweiten, und Hilfe würde er kaum vor der dritten oder vierten Klasse
brauchen.)
    [210]  »Wo fahren wir mit dem Mädel hin, Mann?« fragte Peewee.
    »Sie fahren mich zu ihm nach Hause«, wies Emma ihn an. »Wir haben
einen verdammt großen Haufen Arbeit vor uns, stimmt’s, Jack?«
    »Hört sich so an, als wär sie der Boss, Mann«, sagte Peewee. Dagegen
konnte Jack nichts vorbringen. Emma hatte sich tiefer in den Sitz sinkenlassen
und zog Jack ebenfalls hinunter.
    »Ich geb dir jetzt einen wertvollen Rat«, flüsterte sie. »Ich bin
sicher, eines Tages wirst du ihn sehr nützlich finden.«
    »Was denn?« flüsterte er zurück.
    »Wenn du die Augen des Fahrers nicht im Rückspiegel sehen kannst,
kann er dich auch nicht sehen.«
    »Aha.« Jack konnte Peewees Augen nicht sehen.
    »Vor uns liegen große Aufgaben«, fuhr Emma fort. »Es ist wichtig,
daß du eins nicht vergißt: Wenn du irgendwas nicht verstehst, fragst du mich. Wendy Holton ist eine verkorkste kleine Zicke – frag
sie nie irgendwas! Und Charlotte Barford wartet bloß darauf, dir kreuzbrav
einen zu blasen. Jedesmal, wenn du mit Charlotte sprichst, gibst du dein Leben
und deinen Pimmel in ihre Hand! Also denk daran: Wenn dir irgendwas Neues
begegnet, sag es mir zuerst.«
    »Zum Beispiel?« fragte Jack.
    »Das wirst du dann schon wissen, wenn’s soweit ist«, sagte Emma. »Zum
Beispiel, wenn du zum ersten Mal den Wunsch hast, ein Mädchen zu berühren. Wenn
dieser Wunsch scheißübermächtig wird, sagst du es mir.«
    »Ein Mädchen wo zu berühren?«
    »Das wirst du dann schon wissen«, wiederholte Emma.
    »Aha.« Jack fragte sich, ob der Wunsch, Emmas Schnurrbart zu
berühren, gebeichtet werden mußte – immerhin hatte er ihn ja bereits

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