Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Malcolms
Stimme zu hören. Er war ein hervorragender Lehrer, geduldig und freundlich.
Jeder mochte ihn, doch der ganzen zweiten Klasse tat er leid; seine blinde, an
den Rollstuhl gefesselte Frau war der reinste Horror. In einer Schule, in der
so viele der älteren Mädchen nach außen hin grausam, innerlich aber von
Selbsthaß getrieben waren (was nicht selten auf die erbitterten
Scheidungsgefechte ihrer Eltern zurückgeführt wurde), beteten die Kinder in der
zweiten Klasse täglich, ihr Lehrer möge sich doch von seiner Frau scheiden
lassen. Hätte er sie umgebracht, die Klasse hätte ihm verziehen. Hätte er sie
vor ihren Augen umgebracht, dann hätten die Kinder ihm vielleicht sogar
applaudiert.
    Doch Mr. Malcolm war ein Mann des Ausgleichs und in seinen
Rasiergewohnheiten der Zeit weit voraus. Da sein Haar immer schütterer geworden
war, rasierte er sich den ganzen Schädel, was man in den frühen siebziger
Jahren eher selten sah. Noch ungewöhnlicher war, daß er Stoppeln
unterschiedlicher Länge einer glatten Rasur oder einem echten Bart vorzuziehen
schien. Man muß es der Schule hoch anrechnen, daß sie Mr. Malcolms rasierten
Schädel und unrasiertes Kinn akzeptierte; ähnlich wie die Kinder der zweiten
Klasse hatte die Schulleitung beschlossen, daß er keine weiteren Schicksalsschläge
erleiden sollte. Die blinde Frau im Rollstuhl erweckte in jedem Mitleid.
    [217]  Um ihm eine Freude zu machen, gaben sich die Kinder der zweiten
Klasse besondere Mühe. Mr. Malcolm brauchte sie nie zur Ordnung zu rufen – sie
riefen sich selbst zur Ordnung. Sie taten nichts, was ihn möglicherweise ärgern
würde. Das Leben war schon ungerecht genug zu Mr. Malcolm gewesen.
    In Emma Oastlers Beurteilung der Tragödie floß ihre eigene intime
Vertrautheit mit menschlicher Grausamkeit ein, doch mit ihrer Einschätzung der
Malcolms als Paar lag sie vermutlich richtig. Jane Malcolm war bei einem
Picknick der Kirchengemeinde vom Dach gefallen. Damals war sie auf der High
School gewesen, ein hübsches, begehrtes Mädchen – und mit einemmal von der
Taille abwärts gelähmt. Laut Emma war Mr. Malcolm ein etwas jüngerer Verehrer.
Er verliebte sich in Jane, hauptsächlich, weil sie nun erreichbarer war.
    »Er war bestimmt einer von den uncoolen Typen, mit denen sie nie
ausgegangen wäre«, sagte Emma. »Aber nachdem sie vom Dach gestürzt war, konnte
Rollstuhl-Jane nicht mehr so wählerisch sein.« Ihre Wahl war auf Mr. Malcolm
gefallen, und auch wenn er der einzige Kandidat gewesen war, hätte sie es nicht
besser treffen können.
    Die Blindheit war eine andere Geschichte; das war erst später
passiert, als sie schon viele Jahre verheiratet waren. Jane Malcolm litt an
einer früh einsetzenden Makula-Degeneration. Das bedeutete, erklärte Mr.
Malcolm den Kindern, daß seine Frau ihr zentrales Sehvermögen verloren hatte.
Sie konnte Licht und Bewegungen wahrnehmen, und ihr peripheres Sehvermögen war
noch in Resten vorhanden. Am äußersten Rand ihres Sehfeldes sah sie allerdings
auch keine Farben mehr.
    Der Verlust ihres Verstandes war eine andere Geschichte. Mr. Malcolm
konnte nichts sagen, was ihn oder die Kinder davor hätte beschützen können. So
waren peripher und Peripherie die zwei ersten »schwierigen Wörter«, die die Zweitkläßler lernten – jeden Tag
gab es zwei neue. Die Wörter wahnhaft oder [218]   paranoid standen allerdings nicht auf ihrer Liste. Dennoch
war Rollstuhl-Jane genau das – sie hatte ihren Verstand verloren.
    Wenn Jane Malcolm mit den Zähnen knirschte oder mit dem Rollstuhl
Patsy Booths Tisch unvermittelt frontal rammte, warf Jack oft einen
verstohlenen Blick auf Lucinda Fleming, denn er rechnete fast damit, daß Mrs.
Malcolms sehr sichtbare Wut bei Lucinda einen Anfall stiller Wut auslöste. Es
war verrückt, die Booth-Zwillinge getrennt anzugreifen. Jedesmal, wenn Mrs.
Malcolm in ihrem Rollstuhl Patsys Tisch attackierte, schrie deren Schwester
Heather ebenfalls.
    Von Zeit zu Zeit warf Mrs. Malcolm den Kopf hin und her, als wollte
sie ihr peripheres Sehvermögen loswerden. Vielleicht zog sie vollständige
Blindheit ihrem gegenwärtigen Zustand vor. Und wenn eines der Kinder sich
meldete, um eine Frage von Mr. Malcolm zu beantworten, krümmte sie sich im
Rollstuhl zusammen, bis ihre Stirn die Knie berührte, als wäre ein Mann mit
einem Messer vor ihr aufgetaucht und sie müßte sich ducken, um ihre Kehle zu
schützen. Diese dramatischen Augenblicke, wenn Mrs. Malcolm einen Anfall bekam,
machten die

Weitere Kostenlose Bücher