Bis ich dich finde
einer eingehenden Untersuchung. Sie
hielt sich einen Pullover vor die Brust und musterte sich im Spiegel, dann
hielt sie einen von Alice’ Röcken an ihre Hüften.
»Deine Mutter ist so eine Art
Hippiebraut, stimmt’s, Jack?«
Jack hatte seine Mutter bisher nicht als Hippiebraut betrachtet,
doch zweifellos war sie das. Zu jener Zeit war Alice für die uniformierten
Mädchen in St. Hilda und die immer größer werdende Armee ihrer geschiedenen
Mütter ganz sicher eine Hippiebraut. (»Hippiebraut« war wahrscheinlich noch das
Beste, was man über eine ledige Mutter, die außerdem Tätowiererin war, sagen
konnte.)
Später würde Jack Burns wissen, daß da keine Zauberei im Spiel war:
Eine Frau, die vor einer fremden Kommode stand, wußte sofort, in welcher
Schublade eine andere Frau ihre Unterwäsche aufbewahrte. Emma war erst
dreizehn, doch auch sie [214] wußte es. Die erste Schublade, die sie öffnete, war
die mit Alice’ Unterwäsche. Emma hielt einen BH an ihre noch wenig entwickelten Brüste. Er war zu groß, aber selbst Jack sah,
daß er es eines Tages nicht mehr sein würde. Aus unerfindlichen Gründen war
sein Penis steif wie ein Bleistift, wenn auch nur so groß wie der kleine Finger
seiner Mutter, und die hatte kleine Hände.
»Zeig mir deinen Ständer, Süßer«, sagte Emma. Sie hielt sich noch
immer Alice’ BH an die Brust.
»Meinen was?«
»Du hast einen Steifen, Jack – also komm, zeig schon her!«
Er wußte, was ein Steifer war. Seine
Mutter, die Hippiebraut, nannte das Latte. Aber wie
immer man es nennen mochte – im Schlafzimmer seiner Mutter zeigte Jack Emma
seinen Penis. Was es wahrscheinlich noch schlimmer machte, war, daß Lottie
unter ihnen in der Kücher umherhumpelte, daß Mrs. Wicksteed soeben aus ihrem
Mittagsschlaf erwachte und daß Emma seinen Ständer eingehend, aber enttäuscht
musterte. »Ach, Jack – ich glaube nicht, daß sich da so bald was tun wird.«
»Was soll sich denn tun?«
»Das wirst du dann schon sehen.«
»Das Wasser kocht!« rief Lottie von unten herauf.
»Dann nehmen Sie’s vom Herd!« rief Emma zurück. »Herrje«, sagte sie
zu Jack, »du solltest das Ding gut im Auge behalten. Sag mir Bescheid, wenn er
spritzt.«
»Beim Pinkeln?«
»Nicht beim Pinkeln. Das wirst du dann schon merken.«
»Aha.«
»Das Entscheidende ist: Du mußt mir alles erzählen«, sagte Emma. Sie nahm seinen Penis in die Hand. Jack war besorgt – er
dachte daran, wie sie seinen Finger umgebogen hatte. »Sag deiner Mutter nichts,
sonst kriegt sie noch die Motten. Und auch kein Wort zu Lottie, sonst wird ihr
Hinken schlimmer.«
»Warum hinkt Lottie eigentlich?« fragte Jack. Emma Oastler [215] wußte
soviel, daß er annahm, sie wisse auch das. Leider stimmte das.
»Bei ihr ist die Epiduralanästhesie schiefgegangen«, erklärte sie.
»Das Kind hat sie trotzdem verloren. Eine richtig üble Sache.«
Also konnte man von einer schiefgegangenen Entbindung ein Humpeln
zurückbehalten! Jack nahm an, eine Epiduralanästhesie sei ein Körperteil, ein
Teil des weiblichen Körpers. So, wie er angenommen
hatte, bei einem Kaiserschnitt werde ein Kaiser hinzugezogen, glaubte er nun,
daß Lottie bei der Entbindung ihre Epiduralanästhesie verloren hatte und daß
diese irgendwie überaus wichtig für die weibliche Anatomie war – möglicherweise
verhinderte sie, daß man humpelte. Jahre später, als er das Wort
Epiduralanästhesie nicht im Index von Grays Anatomieatlas fand, fiel ihm sein Irrtum in Hinblick auf den Kaiserschnitt ein. (Daß seine
Mutter nie einen Kaiserschnitt gehabt hatte, war eine noch größere Entdeckung.)
»Der Tee ist fertig!« rief Lottie aus der Küche. Erst als er älter
war, erkannte Jack, daß Lottie gespürt hatte, wie bedrohlich Emma war.
»Träum einen feuchten Traum von mir, mein Kleiner«, sagte Emma zu
Jacks Penis. Sie war eine gute Freundin: Sie half ihm behutsam, seinen Platz in
Jacks Unterhose zu finden, und zog den Reißverschluß der Hose besonders
vorsichtig zu.
»Haben Penisse Träume?« fragte Jack.
»Nicht vergessen: Wenn dein kleiner Freund
einen hat, mußt du es mir sagen«, schärfte Emma ihm ein.
[216] 10
Sein Einmannpublikum
In
der zweiten Klasse war Jacks Lehrer Mr. Malcolm, damals eine der zwei
männlichen Lehrkräfte in St. Hilda. Mr. Malcolm war aus tragischen Gründen
stets in Begleitung seiner Frau, die er auch zum Unterricht mitbrachte. Sie war
blind und an den Rollstuhl gefesselt, und es schien ihr gutzutun, Mr.
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