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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ihrer Erscheinung
lagen noch immer Phasen ihrer Kindheit verborgen«, las Miss Wurtz, als Angel
Clare Tess nicht zum Tanz aufforderte. Was für ein Waschlappen Angel war! Jimmy
Bacon, der jämmerliche Stöhner, der in sein Laken gekackt hatte, war die ideale
Besetzung für ihn.
    »…trotz aller kräftigen, schönen Fraulichkeit«, intonierte Miss
Wurtz fatalistisch, »konnte man zuweilen in ihren Wangen ihr zwölftes Jahr
finden oder ihr neuntes Jahr aus ihren Augen blitzen sehen; und selbst ihr
fünftes pflegte von Zeit zu Zeit über die Rundungen ihres Mundes zu huschen.«
    Jack-als-Tess hatte eigentlich nichts zu tun. Er stand auf der Bühne
und verströmte geschlechtslose Unschuld. Auf seinen Rochester war er stolzer,
aber auch als Tess hatte er seine großen [231]  Auftritte, wobei die Szenen, in
denen die geschlechtslose Unschuld im Vordergrund stand, zwar nicht zu den
besten, aber auch nicht zu den schlechtesten gehörten. Zum Beispiel die, in der
Tess zu d’Urberville (diesem Schwein, gespielt von der ungehobelten Charlotte
Barford, die Miss Wurtz klugerweise aus der Middle School ausgeliehen hatte)
sagte: »Ist Ihnen niemals der Gedanke gekommen, daß das, was jede Frau sagt,
einige Frauen auch wirklich empfinden könnten?« (Charlotte Barford sah aus, als
hätte sie-als-er es sehr genossen, ihn-als-sie zu verführen.)
    Als Jack sein totes Kind beerdigte, konnte er die älteren Mädchen im
Publikum hören: Sie weinten bereits. Und dabei hatte die Geschichte von Tess’
Unglück doch gerade erst begonnen! Jack sprach Hardys Erzählerstimme wie eine
Grabrede. »…in jener schäbigen Ecke des Gottesackers, wo Er die Nesseln wachsen
läßt«, begann Jack, während die älteren Mädchen im Publikum sich – ganz wie von
Miss Wurtz, wenn nicht von Thomas Hardy selbst beabsichtigt – vorstellten, sie
selbst seien in dieser Situation, »…und wo alle ungetauften Kinder, notorische
Trunkenbolde, Selbstmörder und andere mutmaßlich Verdammte begraben liegen«,
fuhr Jack-als-Tess, angefeuert vom Weinen der Mädchen, fort. (Da Miss Wurtz
nichts von Improvisation hielt, hatte sie ihm nicht erlaubt, das Wort
»mutmaßlich« auszulassen, obwohl er sich bei den Proben mehrmals verhaspelt
hatte.)
    Wenn Jack zu dem Waschlappen Jimmy-Bacon-als-Angel-Clare sagte:
»Aber du wolltest nicht mit mir tanzen«, brachen die älteren Mädchen erneut in
Tränen aus. »Ach, ich hoffe, das ist für uns jetzt kein böses Omen!« sagte
Jack-als-Tess zu Jimmy-als-Angel, und wieder weinten sie, denn was war bei
Hardy kein böses Omen? Die Mädchen wußten, daß Tess
unabänderlich verurteilt war – das hatte Miss Wurtz ihnen deutlich genug vor
Augen geführt.
    Das also war Miss Wurtz’ Botschaft an die Mädchen: Seid [232]  vorsichtig! Jede kann schwanger werden! Jeder Mann, der kein Waschlappen ist
wie Jimmy-Bacon-als-Angel, ist ein Schwein wie
Charlotte-Barford-als-d’Urberville. Und Jack-Burns-als-Tess vermittelte diese
Botschaft. Caroline Wurtz’ Bühnenbearbeitungen für die Junior School waren im
Grunde moralische Instruktionen für die Mädchen der Middle und Senior School.
    Jack war in der dritten Klasse. Er verstand die Bühnenbearbeitung
von Tess von den d’Urbervilles nicht, aber
schließlich war sie ja auch nicht für ihn bestimmt. In St. Hilda waren die
wichtigsten Botschaften an die älteren Mädchen gerichtet. Jack war nur ein
Darsteller. Miss Wurtz wußte, daß er mit dem Text zurechtkam, selbst wenn er
ihn nicht verstand. Und für den Fall, daß irgendeine Idiotin unter den Mädchen
nicht begriff, worum es ging, wurden ausnahmslos Bearbeitungen von Romanen
aufgeführt, in denen Frauen auf die Probe gestellt wurden.
    Als er Hester Prynne in Der scharlachrote
Buchstabe spielte, konnte Jack seine Mutter nicht überreden, zur
Aufführung zu kommen, damit sie ihn als achtjährige Ehebrecherin mit einem
roten A auf seiner-als-ihrer Brust sah. »Ich hasse diese Geschichte«, flüsterte
sie im Halbdunkel des Schlafzimmers. »Sie ist so ungerecht. Ich werde Caroline
bitten, Fotos zu machen. Ich werde mir die Fotos anschauen, Jack, aber ich will
diese Geschichte nicht auf der Bühne sehen.«
    Miss Wurtz’ scharfes Auge entdeckte in Wendy Holtons übermäßig
dünnem, unbarmherzigem Körper – in ihren unnachgiebigen Knien, ihrer
Steinfäuste-Härte – eine große Ähnlichkeit mit dem besessenen, rachsüchtigen
Roger Chillingworth. Wieder einmal beraubte Miss Wurtz durch ihre Besetzung die
Middle School einer Schülerin,

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