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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sollten als vorher, war und
blieb Jack ein Rätsel.)
    In Wirklichkeit hatte Miss Wurtz im Unterricht gelegentlich eine
cremefarbene, beinahe durchsichtige Bluse an, doch weil es im Klassenzimmer
meist kühl war, trug sie häufig Pullover, die ihr gut standen. Jacks Mutter
sagte, es seien Kaschmirpullover, was bedeutete, daß Miss Wurtz für ihre
Garderobe mehr ausgab, als ihr Gehalt zuließ.
    »Die Wurtz muß einfach einen Freund haben«, sagte Emma. »Einen, der
reich ist oder wenigstens einen guten Geschmack hat – das ist jedenfalls mein
Tip.«
    Jack hatte wiederholt Emmas Vorwurf bestritten, er bekomme jedesmal
einen Ständer, wenn Connie Turnbull ihm einen Zungenkuß auf die Hand gebe, oder
daß sein Kleiner sich zu Wort melde, wenn er-als-Rochester Connie-als-Jane in
die Arme nehme und seinen Kopf an ihren Busen lege. Es war Emma noch nicht
aufgefallen, daß Jack einen Ständer hatte, sobald er auch nur in die Nähe von
Miss Wurtz kam – ganz gleich, ob das in Wirklichkeit geschah oder ob sie, in
verschiedenen Stadien der Entkleidung, in seinen Träumen auftrat.
    Er wollte nicht, daß »die Wurtz«, wie Emma sie nannte, einen reichen
Freund oder einen mit einem guten Geschmack oder auch nur einen Exfreund hatte,
denn dann konnte dieser Mensch in die Träume des Jungen eindringen und sein
Zusammensein mit Miss Wurtz in ihren Versandhausmiedern, -haltern und - BH s stören.
    Jack träumte nie von den Mädchen in seiner Klasse, nicht einmal von
Lucinda Fleming, die es über zwei Jahre lang geschafft hatte, ihre stille Wut
gut zu verbergen. Und wenn Miss Wurtz in [229]  seinen Träumen auf ihrer sehr
schmalen Oberlippe den Hauch eines Schnurrbarts hatte, so lag das an Emma
Oastler. Er konnte sein Verlangen nach Emmas Oberlippe nicht beherrschen, vor
allem nicht im Traum. Und wenn sein Kleiner zum Leben erwachte, geschah das
immer häufiger nicht auf Jacks Einladung, sondern sozusagen aus eigenem
Antrieb.
    »Gibt’s was Neues, Jack?« flüsterte Emma ihm auf dem Rücksitz der
Limousine zu, während Peewee sie kreuz und quer durch Forest Hill fuhr.
    »Noch nicht«, sagte Jack. (Er nahm – zu Recht – an, daß das die
sicherste Antwort war.)
    Wenn Lottie ihn zu Bett gebracht hatte, stand Jack oft wieder
auf, ging ins Zimmer seiner Mutter, legte sich in ihr Bett und schlief dort
ein. Weil sie beide so unterschiedliche Tagesabläufe hatten, war sie so gut wie
nie da. Erst wenn er längst eingeschlafen war, kam sie nach Hause und schlüpfte
ins Bett. Manchmal legte sie im Halbschlaf ein Bein über Jack, was ihn
regelmäßig weckte. Ihre Haare rochen nach Zigaretten- und Marihuanarauch, und
in ihrem Atem war der durchdringende Benzingeruch von billigem Weißwein.
Manchmal waren beide wach und flüsterten im Halbdunkel miteinander. Jack wußte
nicht, warum sie flüsterten – jedenfalls nicht, weil Lottie oder Mrs. Wicksteed
sie hätten hören können.
    »Wie geht’s dir, Jack?«
    »Gut. Wie geht’s dir?«
    »Wir sind langsam wie Fremde«, flüsterte Alice einmal. Jack war
enttäuscht, weil seine Mutter ihn nicht hatte schauspielern sehen, und sagte
ihr das. »Ach«, antwortete sie, »ich hab dich oft genug schauspielern sehen!«
    Jack hatte allerdings Jane Eyre oder
andere Bühnenbearbeitungen gemeint. Die Wurtz liebte das Theater, bevorzugte
aber Romanadaptionen. Erst später ging Jack auf, daß sie dadurch [230]  jeden
Aspekt der Aufführung kontrollieren konnte. Es gab keinen Autor, der den
Kindern falsche Regieanweisungen gab. Miss Wurtz adaptierte ihre
Lieblingsromane auf ihre Weise. Auch wenn die
Schauspieler aufgefordert waren, die Bühne zu beherrschen, überwachte die Wurtz
jede Bewegung und achtete auf jedes Wort.
    Später merkte Jack, welche wunderschönen Passagen Miss Wurtz
ausgelassen hatte. Sie war also auch Zensorin – als sie Tess
von den d’Urbervilles adaptierte, nahm das Kapitel »Mädchen« einen viel
breiteren Raum ein als das Kapitel »Kein Mädchen mehr«. Irritierender
allerdings war, daß sie die Tess mit Jack besetzte.
    »Niemand gab Tess mehr die Schuld als sie selbst«, begann die
Bühnenfassung. (Miss Wurtz mit ihrer perfekten Intonation und Artikulation war
eine große Anhängerin der Stimme aus dem Off. Jack war zweifellos eine gute
Wahl für eine Rolle, die »ein Gefäß, das nichts als Gefühle enthielt, frei von
jeglicher Erfahrung« verlangte.
    Doch auch in einem Kleid – noch dazu einem langen, weißen Kleid –
und selbst als Milchmädchen beherrschte Jack die Bühne. »In

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