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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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gefällt.« Das stimmte allerdings. (Leider dauerte es noch Jahre, bis
Jack das merkte.)
    Es dauerte ebenfalls eine Weile, bis ihm jemand sagte, daß das
Tätowierungsstudio des Chinesen an der nordwestlichen Ecke von Dundas und
Jarvis Street abends nicht geöffnet hatte. Das Studio lag im Souterrain eines
Hauses in der Dundas Street und schloß gewöhnlich am späten Nachmittag. Jack
vergaß, wer es ihm sagte. Vielleicht irgendein alter Tintensüchtiger, ein
Sammler, in einem der Studios in der Queen Street – etwa zu der Zeit, als seine
Mutter dort ein eigenes Studio eröffnete.
    In den siebziger Jahren wäre jemand wie Tochter Alice in der Queen
Street auf keinen grünen Zweig gekommen. Es war eine Gegend für Whiskey
saufende Rocker mit weißen T-Shirts und Pomade in den Haaren, die nichts für
Hippies übrig hatten. Wer immer es war, der es Jack erzählte – es klang wahr.
Das Studio des Chinesen war abends geschlossen. Vielleicht hatte es freitags
und samstags ein wenig länger geöffnet, aber keinesfalls länger als bis acht
oder neun Uhr.
    Wo also war sie in der Zeit, als Jack in St. Hilda zur Schule ging,
jede Nacht gewesen? Er hatte keine Ahnung. Rückblickend – eine Perspektive, der
man nicht ganz trauen kann – vermutete Jack, daß seine Mutter vielleicht
versucht hatte, ihre Besitzansprüche auf ihren Sohn zu überwinden. Im Lauf der
Jahre sah er seinem Vater immer ähnlicher. Vielleicht wollte Alice sich um so
mehr von ihm zurückziehen, je mehr er William ähnelte.
    Es hatte vielleicht auch etwas damit zu tun, daß Emma Oastler ihm
den Push-up- BH ihrer Mutter gebracht hatte.
Irgendwann mußte Alice ihn finden. Jack nahm den blöden BH jede [241]  Nacht mit ins Bett; er nahm ihn sogar mit ins Bett seiner Mutter, wenn
er nachts zu ihr ging. In einer dieser Nächte legte sie ein Bein über Jack und
weckte ihn. Und in dieser Nacht weckte irgend etwas auch sie. Der BH lag zwischen ihnen, Alice hatte wohl die Drähte
unter den Körbchen gespürt. Sie setzte sich auf und schaltete das Licht an.
    »Was ist das, Jack?« sagte sie und hielt den stinkenden BH hoch. Jack würde nie vergessen, mit was für einem
Blick sie ihn ansah. Es war, als hätte sie Emmas Mutter im Bett entdeckt, es
war, als hätte sie Jack in flagranti ertappt, als wäre sein Kleiner in intimem
Kontakt mit jener verborgenen, behaarten Stelle gewesen.
    »Das ist ein Push-up- BH «, erklärte er.
    »Ich weiß, was das ist. Ich meine, wem gehört er?« Alice roch daran
und verzog das Gesicht. Sie schlug die Decke zurück und starrte auf seinen
Kleinen, der in Habachtstellung aus der Schlafanzughose lugte. »Rede.«
    »Er gehört Emma Oastlers Mutter. Emma hat ihn geklaut und mir
gegeben, ich weiß auch nicht, warum.«
    »Aber ich weiß, warum«, sagte Alice. Jack begann zu weinen. Der
offensichtliche Abscheu seiner Mutter war vernichtend; sein Kleiner sah
ebenfalls ganz vernichtet aus.
    »Hör auf zu schnüffeln. Hör auf!« sagte Alice. Er mußte sich schneuzen.
Seine Mutter reichte ihm den BH , doch er zögerte.
»Na los, mach schon!« befahl sie. »Ich muß ihn sowieso waschen, bevor ich ihn
ihr zurückgebe.«
    »Aha.«
    »Du kannst irgendwo anfangen, Jack. Die ganze Geschichte. Was für
Spiele spielt ihr, Emma und du? Fang am besten damit an.«
    Er erzählte ihr alles – nun ja, vielleicht nicht alles. Möglicherweise verschwieg er, daß Emma ihren Busen entblößt hatte,
möglicherweise sagte er nicht, wie oft Emma seinen Kleinen [242]  hatte sehen
wollen, und ganz bestimmt erwähnte er mit keinem Wort, daß sein Penis jene
verborgene, behaarte Stelle berührt hatte. Seine Mutter schien jedoch eine ganz
gute Vorstellung davon zu haben, was sich abgespielt hatte. »Sie ist fünfzehn, Jack, und du bist acht. Ich werde mal mit Mrs. Oastler reden.«
    »Bekommt Emma Schwierigkeiten?«
    »Das hoffe ich sehr«, sagte Alice.
    »Bekomme ich Schwierigkeiten?«
    Mit was für einem Blick sie ihn ansah! Jack hatte nicht verstanden,
was sie mit der Bemerkung, sie seien langsam wie Fremde, gemeint hatte. Jetzt
verstand er es. Seine Mutter sah ihn an, als wäre er ein Fremder. »Du wirst
bald genug Schwierigkeiten bekommen«, sagte sie nur.

[243]  11
    Sein Vater in ihm
    Verglichen
mit dem Drama, das sich zwischen Emma und Jack entwickelte, und dem, das sich
zwischen Alice und Mrs. Oastler anbahnte, war Miss Wurtz’ Unfähigkeit, die
dritte Klasse in den Griff zu bekommen, nicht sehr schwerwiegend. Dennoch gab
es auch hier Dramatik, wenn auch

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